„Überhitzter“ Supraleiter
Ein Grenzflächensupraleiter zeigt eine „Pseudogap“ wie ein Hochtemperatursupraleiter.
Bei der Untersuchung einer elektrisch leitfähigen und bei tiefsten Temperaturen sogar supraleitfähigen Grenzschicht, die sich zwischen zwei elektrisch isolierenden Oxiden bildet, haben Physiker eine überraschende Entdeckung gemacht. Die Supraleitung dieser Schicht weicht vom Verhalten konventioneller Supraleiter entscheidend ab, um zugleich dem Verhalten von Hochtemperatursupraleitern zu ähneln. Wie das Forscherteam des Zentrums für Elektronische Korrelationen und Magnetismus (EKM) der Universität Augsburg und des MPI für Festkörperforschung Stuttgart zusammen mit Kollegen der Cornell University, der Stanford University und des Paul Scherrer Instituts in Villingen, Schweiz berichtet, könnten diese Erkenntnisse dazu beitragen, Lücken im bisherigen Verständnis der Hochtemperatursupraleitung zu schließen.
Abb.: Das für die Messungen verwendete Bauelement: Eine nur wenige Nanometer hohe verdrahtete Struktur mit etwa 0,6 Millimetern Durchmesser und haardünnen Golddrähten. (Bild: U. Augsburg)
Die elektrische Leitfähigkeit in Metallen wird durch einzelne Elektronen getragen. Wenn diese gegeneinander stoßen, führt ihre Reibung, die dem elektrischen Widerstand entspricht, dazu, dass ein stromdurchflossener Draht sich erwärmt. Dieser Energieverlust stellt ein Problem beim Stromtransport dar. Die Versorgung entfernter Netze mit Strom aus Offshore-Windparks ist ein aktuelles Beispiel hierfür.
Vor gut hundert Jahren hat man entdeckt, dass in vielen Metallen bei sehr tiefen Temperaturen von -250 bis -273 Grad Celsius die den Widerstand verursachende Reibung vollständig verschwindet, sie werden supraleitend. Die Elektronen bewegen sich unterhalb einer materialspezifischen Sprungtemperatur nicht mehr einzeln, sondern kohärent als Kollektiv. Dieses kollektive Verhalten lässt sich messtechnisch auch in der Energieverteilung der Elektronen nachweisen. Die kohärenten Elektronen hinterlassen in dieser Verteilung eine charakteristische Lücke.
Solch eine Energielücke haben die Augsburger Physiker und ihre Kollegen mittels Tunnelspektroskopie und eines eigens entwickelten Bauelements nun an einer Oxid-Grenzfläche zwischen Strontiumtitanat und Lanthanaluminat nachgewiesen. Überraschend dabei war, dass diese Energielücke – im Widerspruch zur gängigen Theorie der Supraleitung – nicht nur unterhalb, sondern auch noch einige zehntel Grad über der Sprungtemperatur von 0,2 Kelvin messbar war.
Ein ganz ähnliches Verhalten kennt man jedoch von den sogenannten Hochtemperatursupraleitern, deren Sprungtemperaturen von bis zu 140 Grad Celsius man bereits mit flüssigem Stickstoff erreichen kann. Hochtemperatursupraleiter wurden vor gut 25 Jahren entdeckt, sie werden seither intensiv erforscht und finden auch schon zahlreiche technische Anwendungen. Wissenschaftlich sind sie allerdings noch immer nicht vollständig verstanden. Vor allem das eigenartige Verhalten der Energielücke, das sogenannte „Pseudogap“, gibt nach wie vor Rätsel auf.
„Dass wir dieses eigenartige Verhalten von Hochtemperatursupraleitern nun auch in einem völlig anderen System entdecken konnten“, meint Christoph Richter vom Augsburger EKM, „kann entscheidend dazu beitragen, die Lücken im Verständnis der Hochtemperatursupraleitung zu schließen und die zugrundeliegende Physik zu verstehen, um darauf aufbauend neue, bessere Materialien entwickeln zu können. Trotz seiner vergleichsweise winzigen Sprungtemperatur könnte der von uns untersuchte ungewöhnliche Grenzflächensupraleiter also dazu beitragen, die Sprungtemperatur zukünftiger Materialien weiter in Richtung Zimmertemperatur zu treiben.“
U. Augsburg / PH