Filmkritik: Atomkraft Forever
Atomkraft Forever (2020), Regie: Carsten Rau, Deutschland, 94 Minuten, Verleih: Camino, Kinostart: 16. September
Der plakative Titel „Atomkraft Forever“ dieses Dokumentarfilms lässt mindestens drei Lesarten zu: euphorisch bejahend im Sinne einer Propagierung der Kernenergie, einen ironisch-kritischen Ton – der deutsch-englische Titel liefert hierfür sicher ein Indiz – oder auch als sachliches Statement, wenn man daran denkt, dass in Deutschland eine Endlagerstätte für radioaktiven Abfall gesucht wird, die Sicherheit für eine Million Jahre bieten soll – aus menschlicher Perspektive wahrlich „für immer“.
Es ist das Verdienst des Films des erfahrenen Dokumentarfilmers Carsten Rau, der sich neben den Themen Flucht und Migration auch schon lange mit dem Energiesektor bzw. der Energiepolitik beschäftigt, viele Perspektiven auf die Kernenergie zu liefern und nachvollziehbar zu machen. Dies gelingt mit einem intensiven Blick auf Akteur:innen in diesem Bereich und mit den eindrucksvollen Bildern des Kameramanns Andrzej Król.
Rau verzichtet auf eine Erklärstimme aus dem Off und gibt dafür den Protagonisten des Films viel Raum. Dazu gehört etwa der Nuklearingenieur Jörg Meyer, der seit Jahrzehnten am Kernkraftwerk Greifswald arbeitet, bis 1995 in der Betriebsphase und mittlerweile schon lange im Rückbau. Kurze Text-Statements setzen in Zwischentiteln inhaltliche Akzente, und zwar sehr eindringlich. Nach den Bildern, die einen Eindruck vom Kernkraftwerk Greifswald und dem Aufwand seines Rückbaus vermittelt haben, entfaltet die Information, dass dieser Rückbau 5,6 Milliarden Euro kosten und mindestens 33 Jahre dauern wird, seine besondere Wirkung, erst recht mit Nachsatz: Das KKW Greifswald ist eines von 17 Atomkraftwerken in Deutschland.
Dem Regisseur geht es nicht darum, die technischen wie politischen Details der Atomenergie bzw. des deutschen Atomausstiegs zu erklären, denn er weiß natürlich, dass dies aufgrund der enormen Komplexität in anderthalb Stunden unmöglich ist. Er nimmt sich aber die Zeit, die Dimensionen zu veranschaulichen und die Positionen zum Thema aufzufächern, von erklärten Gegnern der Atomenergie und des jetzigen Verfahrens zur Endlagersuche über Verantwortliche der Bundesgesellschaft für Endlagerung oder aus der Energiebranche, Mitglieder der Gemeinden, die einst von den nahegelegenen Kernkraftwerken profitierten, bis hin zur neuen Generation von Nuklearingenieur:innen in Frankreich, die sich geradezu euphorisch für die Entwicklung neuer Kernkraftwerkstechnik aussprechen.
„Atomkraft Forever“ sorgt dabei auf unaufgeregte Weise für starke Kontraste: Während der junge französische Nuklearphysiker Lucas David die Vorgänge im Reaktorkern als geradezu poetisch empfindet, stellt Nuklearingenieur Jörg Meyer nüchtern fest: „Um das Reaktor-Material so weit abklingen zu lassen, dass man das gefahrlos zerlegen kann, braucht man eine Lagerzeit von etwa 70 Jahren.“
Archivaufnahmen aus der DDR zum Bau des KKW Greifswald, aus der BRD zum KKW Grundremmingen oder zur Entstehung des Endlagers Gorleben und den enormen Protesten dagegen liefern eine zeitgeschichtliche Perspektive. Zwei Zitate von Angela Merkel von 2009 und 2011 belegen die radikale Wende in der Politik infolge von Fukushima. 2022, also nur elf Jahre später, sollen die letzten drei deutschen Reaktoren abgeschaltet werden.
Aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen in den Kernkraftwerken bzw. Kernforschungsanlagen und der reservierten Haltung auf der französischen Seite dauerte die Entstehung von „Atomkraft Forever“ rund fünf Jahre. Herausgekommen ist ein wichtiger filmischer Beitrag zur Kernenergie-, Rückbau- und Endlagerdebatte, die uns für sehr lange Zeit beschäftigen und betreffen wird. Carsten Rau lässt keinen Zweifel daran, dass er kein Befürworter der Kernenergie ist, aber sein Film lädt dennoch ein, offen, aber mit dem Blick auf die Tatsachen, in die Diskussion einzusteigen. Die visuellen Schauwerte des Films entfalten dabei ihre manchmal unheimlich schöne Wirkung am besten auf der großen Leinwand.
Alexander Pawlak
Weitere Informationen
- Webseite zum Film (Camino Filmverleih) / Trailer (YouTube)
- 5 Fragen an Carsten Rau zu „Atomkraft Forever“ (Filmfest Braunschweig)
Weitere Beiträge
- M. Pfalz/BGE, Die Landkarte der Endlagersuche (Physik Journal, November 2020, S. 10)
- M. Pfalz, „Ausgangspunkt ist die weiße Landkarte“ – Interview mit Armin Grunwald vom Institut für Technikfolgenabschätzung in Karlsruhe (Physik Journal, Oktober 2016, S. 20)
- Nachrichten zum Thema "Endlager" auf pro-physik.de
- Physik-Journal-Dossier Energiewende
- Physik-Journal-Dossier Reaktorunfälle
Historische Perspektiven
- Die Handhabung radioaktiver Abfälle weltweit (Physikalische Blätter 38, 104, 1982) PDF
- H. W. Levi, Die Entsorgung von Kernkraftwerken (Physikalische Blätter 36, 299, 1980) PDF
- E. Viehl, Standorterkundung und Anlagenplanung für die Endlagerung radioaktiver Abfälle in Gorleben (Physikalische Blätter 36, 90, 1980) PDF
- K. H. Beckurts, Über die Rolle der Kernenergie in den nächsten Jahrzehnten (Physikalische Blätter 34, 19, 1978) PDF