14.11.2012

Mikrokapseln im Wärmekollaps

Physiker simulieren erstmals Auswirkungen thermischer Fluktuationen.

Ab welchem Druck fängt eine Hohlkugel an zu kollabieren? Dieses klassische Problem der Mechanik spielt auch beim Verständnis von Mikrokapseln eine Rolle, die Wirkstoffe im Körper gezielt zu einem Organ transportieren können. Anders als bei Druckkesseln oder Taucherglocken kommen dabei thermische Fluktuationen hinzu. Die mikroskopischen Schalen verformen sich unkontrolliert aufgrund dieser wärmebedingten Molekularbewegung. Unter Druck kollabieren sie deshalb eher als bisher vorhergesagt, wie Jülicher Wissenschaftler und ihre Partner an der Universität Harvard nun erstmals exakt berechnet haben.

Abb.: Thermische Fluktuationen verursachen kleine Knicke und Dellen in der Kugeloberfläche (untere Reihe; Temperatur steigend von links nach rechts). Diese führen dazu, dass thermisch angeregte Hohlkugeln bereits bei einem niedrigeren Druck kollabieren als solche mit völlig glatter Oberfläche (obere Reihe; links: hoher kritischer Druck, rechts: niedriger kritischer Druck; Bild: FZ Jülich)

In den letzten Jahren wurden aus verschiedenartigen Materialien Kapseln mit einem Durchmesser von wenigen Mikro- oder Nanometern hergestellt, zum Beispiel aus Polyelektrolyten oder aus Siliziumoxid. Ihre Dynamik und Interaktion ist entscheidend für mechanische Eigenschaften, die teilweise völlig neue Möglichkeiten bieten für Implantate, Prothesen oder maßgeschneiderte Träger für medizinische Wirkstoffe. Für die Entwicklung solcher Anwendungen ist es von Interesse, präzise vorhersagen zu können, wie sich die Kapseln unter Druck verhalten und ab welchem kritischen Wert es zum abrupten Kollaps kommt.

Die Deformation makroskopischer, starrer Kugelschalen wurde bereits vor über 50 Jahren von dem berühmten ungarisch-amerikanischen Mathematiker, Luftfahrtingenieur und Physiker Theodore von Kármán sehr genau berechnet und beschrieben. Doch für den Nano- und Mikrometerbereich gilt dessen Formel nur begrenzt. „Aufgrund der thermischen Bewegung im angrenzenden Fluid sind mikroskopische Teilchen ständigen Stößen mit den umgebenden Molekülen und Atomen ausgesetzt, die sie abhängig von ihrer Elastizität und Größe unablässig verformen“, erläutert Gerhard Gompper vom Institut für Komplexe Systeme (ICS).

Die Jülicher Physiker haben gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität Harvard auf Superrechnern simuliert, wie sich die Form der winzigen Kugelschalen unter Einbeziehung der thermischen Fluktuationen verändert. „Mit unseren Berechnungen konnten wir erstmals zeigen, dass thermische Fluktuationen die Stabilität tatsächlich beeinflussen, speziell dann, wenn nicht nur die Teilchen selbst, sondern auch ihre Wanddicke im Verhältnis zum Radius sehr klein ausfallen“, so der Leiter des Bereichs Theorie der Weichen Materie und Biophysik.

Besonders stark sind die thermischen Effekte, wenn äußere Kräfte wirken, beispielsweise ein osmotischer Druck, der durch unterschiedlich hohe Stoffkonzentrationen innerhalb und außerhalb einer Zelle hervorgerufen wird. „Die thermisch bedingten Dellen und Knicke in der Oberfläche wirken wie eine Art Sollbruchstelle, die unter Druck schnell weiter anwächst. Das führt dazu, dass sich thermisch angeregte Kugeln um bis zu zwanzig Prozent leichter verformen und deutlich eher kollabieren, als durch die klassische Theorie vorhergesagt“, berichtet Mitautor Gerrit Vliegenthart vom Institute for Advanced Simulation (IAS) .

Betroffen von den thermischen Effekten sind unter anderem rote Blutkörperchen, deren Anteil im menschlichen Blut etwa 50 Prozent beträgt. Auf vergleichbare Werte bezüglich Größe und Elastizität kommen auch Polyelektrolytkapseln, die unter anderem in der Druckindustrie als Farbkapseln eingesetzt werden. Derzeit werden sie zudem als Medikamententräger weiterentwickelt, die medizinische Wirkstoffe gezielt über die Zeit abgeben oder zu bestimmten Organen transportieren können. Am stärksten wirken sich die thermischen Fluktuationen wahrscheinlich bei einem ziemlich exotischen Material aus: Mikrokapseln aus künstlicher Spinnenseide, entwickelt von Wissenschaftlern der TU München. Ihre Hülle ist extrem reißfest und mit einer Dicke von wenigen Nanometern konkurrenzlos dünn.

Welchen Einfluss thermische Fluktuationen auf die Formstabilität haben, lässt sich Gerhard Gompper zufolge übrigens auch mit einem einfachen Experiment nachvollziehen: „Man nehme ein Blatt Papier, lege es auf den Tisch, und versuche, diagonal entgegengesetzte Kanten gegeneinander zu verschieben, was wegen der hohen Schersteifigkeit kaum gelingt. Nun zerknüllt man das Papier, streicht es fast glatt und legt es wieder auf den Tisch. Die Kanten lassen sich nun deutlich besser gegeneinander verschieben als vorher, wobei die verbliebenen Knicke im Papier den thermischen Fluktuationen entsprechen.“

FZJ / OD

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