Munch im Röntgenblick
Geheimnis um mysteriöse Flecken auf berühmten Gemälde mit Hamburger Synchrotron gelüftet.
Mit Hilfe der brillanten Röntgenstrahlung von DESYs Forschungslichtquelle PETRA III haben Wissenschaftler ein jahrzehntealtes Rätsel der Kunstgeschichte gelöst: Das Team um Geert Van der Snickt von der Universität Antwerpen entschlüsselte die Natur von mysteriösen weißen Flecken auf dem berühmten Gemälde „Der Schrei“ des Norwegers Edvard Munch. Entgegen einer populären Vermutung handelt es sich nicht um Vogelkot und auch nicht um weiße Farbe. Die Röntgenuntersuchung zeigt: Die Flecken bestehen aus Wachs, das vermutlich von einer Kerze in Munchs Atelier auf das Gemälde getropft ist.
Abb.: Voruntersuchungen des 'Schrei' von Edvard Munch in Antwerpen für die Analyse mysteriöser weißer Flecken. (Bild: Univ. Antwerpen)
Munch war dafür bekannt, dass er viel im Freien gearbeitet und sogar seine Bilder dort aufbewahrt hat, oft nur notdürftig vor der Witterung geschützt. Der „Schrei“ kam direkt aus dem Atelier des Malers in die Sammlung des Norwegischen Nationalmuseums und besaß bereits damals die weißen Flecken. Diese Tatsachen führten zu der Vermutung, dass Munch auch den „Schrei“ im Freien aufbewahrt hatte, wo vorbeifliegende Vögel eine weitere Schicht auf das Meisterwerk aufgetragen haben könnten. „Vogelkot kann eine nennenswerte Gefährdung für Denkmäler, Freiluftstatuen und neue Autos darstellen“, sagt Kunsthistoriker Van der Snickt. „Ich habe ihn aber bislang nicht mit Staffeleigemälden in Zusammenhang gebracht und ganz bestimmt nicht mit bedeutenden Meisterwerken mit einem Wert von mehr als 100 Millionen Dollar.“
„Der Schrei“ von Edvard Munch (1863-1944) ist zu einem Symbol des europäischen Kunstkanons geworden. „In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts malte Edvard Munch vier Versionen des 'Schreis', eines Gemäldes, das heute als entscheidend für die spätere Entwicklung des Expressionismus gilt“, erläutert der Direktor für Alte Meister und Moderne Kunst am Nationalmuseum in Oslo, Nils Ohlsen. Obwohl eines der vier Gemälde im Jahr 2012 für 119 Millionen US-Dollar verkauft wurde, ist die berühmteste Version sicherlich das untersuchte Gemälde aus der Sammlung des Norwegischen Nationalmuseums. Dieses Werk unterscheidet sich von den anderen nicht nur dadurch, dass es als das älteste gilt, sondern auch durch eine Reihe rätselhafter weißer Spritzer auf der Oberfläche.
Tine Frøysaker von der Universität Oslo, die bei ihrer Arbeit als Konservatorin wiederholt mit Vogelexkrementen an den berühmten norwegischen Stabkirchen zu tun hatte, war von der Vogelkot-Theorie allerdings wenig überzeugt – nicht zuletzt, weil die weißen Flecken unter dem Mikroskop keineswegs nach Ausscheidungen aussehen. Auch Gemäldekonservator Thierry Ford aus dem Nationalmuseum hatte seine Zweifel: „Vogelkot ist für seine zersetzende oder aufweichende Wirkung auf viele Materialien bekannt, was die meisten Autobesitzer sicherlich bestätigen können.“ Im Fall des Munch-Gemäldes scheint die weiße Substanz jedoch auf der Farboberfläche zu liegen. Darüber hinaus scheint sie an manchen Stellen im Laufe der Jahre abgeblättert zu sein, ohne hier Schäden zu hinterlassen.
Abb.: Auf dem 'Schrei' von Edvard Munch finden sich mysteriöse weiße Flecken (Lupe), deren Ursprung nun ermittelt wurde. (Bild: Norwegisches Nationalmuseum)
Gegen die Vogelkot-Theorie spricht außerdem, dass Munch diese Version auf Pappe gemalt hat, die bei einer Lagerung im Freien vermutlich Schaden genommen hätte. „Es schien plausibel, dass die weißen Spritzer eher von weißer Farbe oder Kreide stammten, die versehentlich auf den 'Schrei' getropft waren, während Munch in seinem Atelier an anderen Gemälden arbeitete“, sagt Frøysaker. Trotz dieser logischen Argumente hielt sich die Vogelkot-Theorie jedoch hartnäckig, möglicherweise auch deshalb, weil sie einen Teil des norwegischen Nationalerbes auf charmante Weise mit der nationalen Liebe zur Natur verbindet.
Im Mai 2016 lud Frøysaker die Antwerpener Kunsthistoriker nach Oslo ein, um die von Munch verwendeten Materialien und Techniken genauer zu charakterisieren. Der vermeintliche Vogelkot stand dabei zwar nicht im Zentrum des Interesses, wie Van der Snickt betont. „Es wäre jedoch ein Fehler gewesen, das moderne Antwerpener Equipment nicht zu nutzen, um den alten Konflikt um den Vogelkot zu lösen.“ Der „Schrei“ wurde mit einem mobilen, in Antwerpen entwickelten Röntgenscanner untersucht. Überraschenderweise schloss diese Untersuchung jedoch die Farbspritzertheorie aus, da sich in den rätselhaften Flecken keinerlei weiße Pigmente oder Kalzium entdecken ließen.
Die Forscher beschlossen daraufhin, dem Rätsel weiter auf den Grund zu gehen: Sie nahmen winzige Proben der weißen Flecken, um sie an DESYs Röntgenquelle PETRA III zu analysieren. In der Anlage erzeugen schnelle Teilchen aus einem Teilchenbeschleuniger ein besonders brillantes Röntgenlicht. „Über das Streumuster, das bei der Durchleuchtung einer Probe entsteht, lässt sich unter anderem die innere Struktur der untersuchten Materialien auf atomarer Skala bestimmen“, erläutert DESY-Forscher Gerald Falkenberg, Leiter der Messtation P06 an PETRA III, an der die Untersuchungen stattfanden.
„Die Einführung von Teilchenbeschleunigern für die Untersuchung von Farbmaterialien hat unser Verständnis davon revolutioniert, wie sich historische Farbsysteme verhalten“, betont der Antwerpener Chemieprofessor Koen Janssens. „In den vergangenen Jahren konnten wir verschiedene chemische Abbauprozesse enträtseln, die Gemälde verfärben können oder abblättern lassen – Wissen, das letztlich zu einer besseren Konservierung führen wird.“
Bei der Analyse der DESY-Messdaten von Munchs „Schrei“ erlebte der Antwerpener Doktorand Frederik Vanmeert eine Überraschung: „Ich habe sofort das Streumuster von Wachskristallen erkannt, weil ich diesem Material bereits mehrere Male bei der Untersuchung von Gemälden begegnet bin.“ Instabile Gemälde wurden in der Vergangenheit oft mit Bienenwachs oder ähnlichen Materialien imprägniert, um abblätternde Farbe zu sichern oder eine neue Leinwand auf die Rückseite einer verschlissenen aufzutragen. Im Fall des „Schreis“ ist die wahrscheinlichste Erklärung, dass es sich bei den weißen Flecken um Wachsspritzer handelt, die aus Versehen von einer Kerze in Munchs Atelier auf das Bild getropft sind.
Um sicher zu gehen, wurden auch Vogelkotproben bei PETRA III untersucht. „Dabei ist auf den ersten Blick zu erkennen, dass die Messdaten des Vogelkots nicht zu dem Material aus den weißen Flecken passen, dessen Messdaten sich jedoch mit Bienenwachs decken“, sagt Falkenberg. „Zwar hängt die Zusammensetzung von Vogelkot auch stark von den Ernährungsgewohnheiten des jeweiligen Vogels ab“, ergänzt Van der Snickt. „Ich bezweifle jedoch stark, dass Munchs Gemälde von Vögeln bekleckert wurde, die zufällig eine Vorliebe für Wachs hatten. Daher glaube ich, wir können den Fall des vermeintlichen Vogelkots jetzt schließen.“
DESY / JOL