26.08.2016

Munch im Röntgenblick

Geheimnis um mysteriöse Flecken auf berühmten Gemälde mit Hamburger Synchrotron gelüftet.

Mit Hilfe der brillanten Röntgen­strahlung von DESYs Forschungs­lichtquelle PETRA III haben Wissen­schaftler ein jahrzehnte­altes Rätsel der Kunst­geschichte gelöst: Das Team um Geert Van der Snickt von der Universität Antwerpen entschlüsselte die Natur von mysteriösen weißen Flecken auf dem berühmten Gemälde „Der Schrei“ des Norwegers Edvard Munch. Entgegen einer populären Vermutung handelt es sich nicht um Vogelkot und auch nicht um weiße Farbe. Die Röntgen­untersuchung zeigt: Die Flecken bestehen aus Wachs, das vermutlich von einer Kerze in Munchs Atelier auf das Gemälde getropft ist.

Abb.: Voruntersuchungen des 'Schrei' von Edvard Munch in Antwerpen für die Analyse mysteriöser weißer Flecken. (Bild: Univ. Antwerpen)

Munch war dafür bekannt, dass er viel im Freien gearbeitet und sogar seine Bilder dort aufbewahrt hat, oft nur notdürftig vor der Witterung geschützt. Der „Schrei“ kam direkt aus dem Atelier des Malers in die Sammlung des Norwe­gischen National­museums und besaß bereits damals die weißen Flecken. Diese Tatsachen führten zu der Vermutung, dass Munch auch den „Schrei“ im Freien aufbewahrt hatte, wo vorbei­fliegende Vögel eine weitere Schicht auf das Meister­werk aufgetragen haben könnten. „Vogelkot kann eine nennens­werte Gefährdung für Denkmäler, Freiluft­statuen und neue Autos darstellen“, sagt Kunst­historiker Van der Snickt. „Ich habe ihn aber bislang nicht mit Staffelei­gemälden in Zusammen­hang gebracht und ganz bestimmt nicht mit bedeutenden Meister­werken mit einem Wert von mehr als 100 Millionen Dollar.“

„Der Schrei“ von Edvard Munch (1863-1944) ist zu einem Symbol des euro­päischen Kunst­kanons geworden. „In den letzten Jahren des 19. Jahr­hunderts malte Edvard Munch vier Versionen des 'Schreis', eines Gemäldes, das heute als entscheidend für die spätere Entwicklung des Expres­sionismus gilt“, erläutert der Direktor für Alte Meister und Moderne Kunst am National­museum in Oslo, Nils Ohlsen. Obwohl eines der vier Gemälde im Jahr 2012 für 119 Millionen US-Dollar verkauft wurde, ist die berühmteste Version sicherlich das unter­suchte Gemälde aus der Sammlung des Norwe­gischen National­museums. Dieses Werk unter­scheidet sich von den anderen nicht nur dadurch, dass es als das älteste gilt, sondern auch durch eine Reihe rätsel­hafter weißer Spritzer auf der Oberfläche.

Tine Frøysaker von der Universität Oslo, die bei ihrer Arbeit als Konser­vatorin wiederholt mit Vogel­exkrementen an den berühmten nor­wegischen Stabkirchen zu tun hatte, war von der Vogelkot-Theorie allerdings wenig überzeugt – nicht zuletzt, weil die weißen Flecken unter dem Mikro­skop keineswegs nach Aus­scheidungen aussehen. Auch Gemälde­konservator Thierry Ford aus dem National­museum hatte seine Zweifel: „Vogelkot ist für seine zersetzende oder auf­weichende Wirkung auf viele Materialien bekannt, was die meisten Auto­besitzer sicherlich bestätigen können.“ Im Fall des Munch-Gemäldes scheint die weiße Substanz jedoch auf der Farb­oberfläche zu liegen. Darüber hinaus scheint sie an manchen Stellen im Laufe der Jahre abgeblättert zu sein, ohne hier Schäden zu hinter­lassen.

Abb.: Auf dem 'Schrei' von Edvard Munch finden sich mysteriöse weiße Flecken (Lupe), deren Ursprung nun ermittelt wurde. (Bild: Norwegisches Nationalmuseum)

Gegen die Vogelkot-Theorie spricht außerdem, dass Munch diese Version auf Pappe gemalt hat, die bei einer Lagerung im Freien vermut­lich Schaden genommen hätte. „Es schien plausibel, dass die weißen Spritzer eher von weißer Farbe oder Kreide stammten, die versehentlich auf den 'Schrei' getropft waren, während Munch in seinem Atelier an anderen Gemälden arbeitete“, sagt Frøysaker. Trotz dieser logischen Argu­mente hielt sich die Vogelkot-Theorie jedoch hartnäckig, möglicher­weise auch deshalb, weil sie einen Teil des norwe­gischen National­erbes auf charmante Weise mit der nationalen Liebe zur Natur verbindet.

Im Mai 2016 lud Frøysaker die Antwer­pener Kunst­historiker nach Oslo ein, um die von Munch verwendeten Materialien und Techniken genauer zu charak­terisieren. Der vermeint­liche Vogelkot stand dabei zwar nicht im Zentrum des Interesses, wie Van der Snickt betont. „Es wäre jedoch ein Fehler gewesen, das moderne Antwer­pener Equipment nicht zu nutzen, um den alten Konflikt um den Vogelkot zu lösen.“ Der „Schrei“ wurde mit einem mobilen, in Antwerpen entwickelten Röntgen­scanner untersucht. Über­raschender­weise schloss diese Unter­suchung jedoch die Farb­spritzer­theorie aus, da sich in den rätsel­haften Flecken keinerlei weiße Pigmente oder Kalzium entdecken ließen.

Die Forscher beschlossen daraufhin, dem Rätsel weiter auf den Grund zu gehen: Sie nahmen winzige Proben der weißen Flecken, um sie an DESYs Röntgenquelle PETRA III zu analysieren. In der Anlage erzeugen schnelle Teilchen aus einem Teilchen­beschleuniger ein besonders brillantes Röntgenlicht. „Über das Streu­muster, das bei der Durch­leuchtung einer Probe entsteht, lässt sich unter anderem die innere Struktur der unter­suchten Materialien auf atomarer Skala bestimmen“, erläutert DESY-Forscher Gerald Falken­berg, Leiter der Messtation P06 an PETRA III, an der die Unter­suchungen stattfanden.

„Die Einführung von Teilchen­beschleunigern für die Unter­suchung von Farb­materialien hat unser Verständnis davon revo­lutioniert, wie sich historische Farbsysteme verhalten“, betont der Antwerpener Chemie­professor Koen Janssens. „In den vergangenen Jahren konnten wir verschiedene chemische Abbau­prozesse enträtseln, die Gemälde verfärben können oder abblättern lassen – Wissen, das letztlich zu einer besseren Konse­rvierung führen wird.“

Bei der Analyse der DESY-Messdaten von Munchs „Schrei“ erlebte der Antwer­pener Doktorand Frederik Vanmeert eine Über­raschung: „Ich habe sofort das Streumuster von Wachskristallen erkannt, weil ich diesem Material bereits mehrere Male bei der Unter­suchung von Gemälden begegnet bin.“ Instabile Gemälde wurden in der Ver­gangenheit oft mit Bienen­wachs oder ähnlichen Materia­lien imprägniert, um abblätternde Farbe zu sichern oder eine neue Leinwand auf die Rückseite einer ver­schlissenen aufzutragen. Im Fall des „Schreis“ ist die wahrschein­lichste Erklärung, dass es sich bei den weißen Flecken um Wachs­spritzer handelt, die aus Versehen von einer Kerze in Munchs Atelier auf das Bild getropft sind.

Um sicher zu gehen, wurden auch Vogelkot­proben bei PETRA III untersucht. „Dabei ist auf den ersten Blick zu erkennen, dass die Messdaten des Vogel­kots nicht zu dem Material aus den weißen Flecken passen, dessen Messdaten sich jedoch mit Bienen­wachs decken“, sagt Falkenberg. „Zwar hängt die Zusammen­setzung von Vogelkot auch stark von den Ernährungs­gewohnheiten des jeweiligen Vogels ab“, ergänzt Van der Snickt. „Ich bezweifle jedoch stark, dass Munchs Gemälde von Vögeln bekleckert wurde, die zufällig eine Vorliebe für Wachs hatten. Daher glaube ich, wir können den Fall des vermeint­lichen Vogelkots jetzt schließen.“

DESY / JOL

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