24.06.2003

Auflösung der Natur - Auflösung der Geschichte

Könneker


Von C. Könneker. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001. XIV + 462 S., 23 Abb., kart., ISBN 3-476-45262-X

Carsten Könneker behandelt in vorliegendem Buch ein bisher eher vernachlässigtes Thema, nämlich den Einfluss der modernen Physik auf literarische Produkte und auf die Weltanschauung des Nationalsozialismus. Könneker zeigt im 1. Teil seines Werkes an den Autoren Carl Einstein, Hermann Broch und Robert Musil die produktive literarische Verarbeitung der neuen Ideen. Carl Einsteins Ästhetik des erzählten Raumes und der erzählten Zeit ging aus der Bezugnahme auf den veränderten Raum- und Zeitbegriff der Relativitätstheorie hervor. Broch und Musil wiederum verarbeiteten das neue Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit in der Quantenmechanik und die Unbestimmtheitsrelationen als Ausdruck der Kritik an einem enggefassten Kausalprinzip. Das alles wird detailgetreu nachgezeichnet und dürfte unstrittig sein - ebenso wie die Behandlung Gottfried Benns und seiner negativen Reak tion auf die moderne Physik.

Im 2. Teil (betitelt als "Der Fluch der modernen Physik" im Vergleich zum "Segen" - dem 1. Teil) will Könneker einen maßgeblichen Einfluss der Physik auf die nationalsozialistische Ideologie und Politik nachweisen. Diesen findet der Autor vor allem in den Provokationen, die von einer vulgarisierten theoretischen Physik (etwa dem Verständnis der Relativitätstheorie als allgemeinem Relativismus) ausgingen und "ein ... Bedürfnis nach weltanschaulicher Katharsis" (S. 361) auslösten, das von der NS-Ideologie aufgegriffen und zum Teil befriedigt wurde. Die entstandene antisemitisch aufgeladene Wissenschaftsfeindlichkeit (zum Teil auch durch die Person Einstein erklärbar) richtete sich dann im NS-Regime auch gegen die Quantentheoretiker wie den "weißen Juden" Heisenberg. Ich halte diese These für weit überzogen, zumal der Autor auch keine neuen historischen Quellen zur Untermauerung seiner Neubewertung heranzieht. Über die Ursprünge der nationalsozialistischen Ideologie gibt es eine umfangreiche Literatur, die z.B. Hitlers wissenschaftsfeindlichem Weltbild nachgeht (Grundlage seines Nationalismus, Antisemitismus etc.). Und auch über die Rolle der modernen Physik im NS-Staat gibt es seit Jahren eine intensive, zum Teil kontroverse Diskus sion, in der z.B. dem machtorientierten Pragmatismus im Dritten Reich eine weitaus wichtigere Rolle zugeschrieben wird, als dies Könneker tut.

Insgesamt steht Könnekers zum Teil pathetisch vorgetragener Ansatz auf zu wackligen Füßen, um seiner Bewertung der theoretischen Physik im Hinblick auf die NS-Ideologie wirklich Plausibilität verleihen zu kön nen. Außer Frage steht aber, dass die Nazis geschickt an vorhandenen Vorurteilen anknüpften - auch an denen, die Einstein betreffen und die Vulgarisierungen der modernen Physik.
Werner Eisner


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