Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch
Thomas Kirchhoff et al. (Hrsg.): Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Mohr Siebeck, Tübingen 2017, 380 S., broschiert, 24,99 €, ISBN 9783825247690
Thomas Kirchhoff et al. (Hrsg.)
Moderne Naturwissenschaft – Physik als zentraler Exponent – entstand aus dem Schoße großer Naturphilosophen. Zu der Zeit Galileis, Keplers und Descartes‘ bildete Naturwissenschaft ein zentrales Element von Naturphilosophie. Newtons wegweisendes Werk der Klassischen Physik trägt dem Rechnung: „Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie“.
Doch die Einheit von Naturwissenschaft und Naturphilosophie zerbrach bald. Der fortschreitende Erfolg der Naturwissenschaften einerseits und die immer spekulativer werdenden Systeme der Naturphilosophie andererseits passten nicht mehr zusammen.
Aber das sollte nicht das letzte Wort gewesen sein. Eine Revitalisierung der Naturphilosophie ist zu beobachten, wie Thomas Kirchhoff, Nicole C. Karafyllis und andere Autoren in dem von ihnen herausgegebenen, interdisziplinär ausgerichteten und gut zugänglichen Band zeigen: Naturphilosophie ist aktueller denn je. Sie könnte, so die Hoffnung, vorläufige Synthesen unseres enorm gewachsenen Naturwissens ermöglichen, vielleicht sogar einen neuen Blick auf ein verlorengegangenes Ganzes der Natur. Aber nicht nur die Reaktion auf die fortschreitende Fragmentierung und Atomisierung unseres unüberschaubar gewordenen Naturwissens ist Ausgangspunkt für heutige Naturphilosophie. Zudem speist sich die Notwendigkeit von Naturphilosophie auch aus der Ambivalenz der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung: Was kann und soll Natur etwa im Angesicht der Umweltproblematik (Klima, Energie, Wasser, Ernährung, Tiere, Körper/Leib, Gesundheit) in Lebenswelt und Gesellschaft sein?
Das Buch bietet all jenen, die einen umfassenden Einblick in naturphilosophische Hintergründe und Interpretationslinien der Naturwissenschaften erhalten möchten, eine reichhaltige Grundlage, die zum Weiterfragen und -denken anregt. So besprechen die Autoren „Raum und Zeit“, „Quanten und Felder“, „Materie, Kraft, Energie“, „Struktur, System, Information“, aber auch biologische bzw. disziplinübergreifende Themenfelder wie „Leben“ oder „Mensch“. Der Leser erfährt in gut strukturierter und anschaulicher Form sowohl wesentliche historische Stationen unserer Naturerkenntnisse als auch in systematischer Hinsicht einen Überblick über das heutige Naturwissen. Dabei wird auch immer wieder die Frage nach dem vorherrschenden gesellschaftlichen Naturverständnis berührt, das vielfach handlungsleitenden Charakter im Alltag hat. Diese beachtliche thematische Breite, verbunden mit einer inhaltlichen Tiefe, ist für Physiker, für Physik-Studierende sowie für an physikalischen Erkenntnissen Interessierte enorm anregend und bereichernd.
So ist es dann auch das Anliegen des Buches, neugierig zu machen und mit dem Leser facettenreiche naturphilosophische Denkwege und Fragekorridore zu beschreiten. Das dazu vorgelegte plurale und integrative Verständnis von Naturphilosophie wie von Natur vermittelt und stellt Vermittlungen her. „Dem vorliegenden Ansatz geht es […] um eine Einheit in der Pluralität, um die Integration eines vielstimmigen Nachdenkens über Natur, das auch eine Naturphilosophie jenseits der akademischen Disziplinen nicht von vorne herein ausschließt.“ Es gibt also nicht das eine Naturverständnis, doch lassen sich die disziplinär unterschiedlichen Naturverständnisse aufeinander beziehen: Eine interdisziplinäre Integration, ja eine Zusammenschau, wird so möglich.
Eine aktuelle Naturphilosophie, so zeigen die Autoren, schließt fragend auf und nicht final ab. Das Buch stellt eine heute dringend notwendige Erweiterung und interdisziplinäre Ergänzung der Fachphysik dar. In Anlehnung an Georg Christoph Lichtenberg, den großen Naturphilosophen und Experimentator des 18. Jahrhunderts, gilt: Wer nichts als Physik versteht, versteht auch diese nicht recht! Das Buch sei all denjenigen empfohlen, die ein vertieftes Verständnis von Physik – aber auch von physikalischem sowie allgemeinem Naturwissen – erlangen wollen.
Prof. Dr. Jan C. Schmidt, Hochschule Darmstadt