05.11.2010

Vom Urknall zum Durchknall

Unzicker, A.

Die Vereinheitlichungstendenzen der modernen Physik werden zuweilen zu dem Schlagwort „Suche nach der Weltformel“ verkürzt. Ziel ist die Konstruktion einer fundamentalen Theorie, die es gestatten soll, alle bekannten Naturgesetze einschließlich der Teilchenmassen und Kopplungen aus ihr abzuleiten. Der bisher umfassendste Versuch ist die Stringtheorie, die freilich von diesem hehren Ziel noch weit entfernt ist. Das hat schon verschiedene Kritiker auf den Plan gerufen, namentlich Peter Woit und Lee Smolin, die dieser Theorie die Loslösung von jeder Erfahrung und die Konstruktion von Spekulationsblasen barocken Ausmaßes vorwerfen.

Der Verfasser dieses Buches, Gymnasiallehrer in München und laut Klappentext Autor vielbeachteter Fachpublikationen, übernimmt diese Kritik und dehnt sie auf fast alle Bereiche der physikalischen Grundlagenforschung aus, vor allem auf Kosmologie und Teilchenphysik. In einer einfachen, durchweg im Plauderton gehaltenen Sprache holt er zu einem Rundumschlag aus und lässt kein gutes Haar an den beteiligten Forschern. Etliche Kritikpunkte sind dabei durchaus berechtigt. Wer könnte nicht ein Lied davon singen, dass Publikationsdruck und der Zwang zum Einwerben von Drittmitteln dazu führen, dass unzählige überflüssige Arbeiten erscheinen und Gruppendenken mehr zählt als Originalität? Freilich ist das ein Problem, unter dem nicht nur die hier angegriffenen Gebiete leiden. Statt ausgewogen und sachlich, wird die Kritik des Autors leider pauschal und emotional vorgetragen. Füllsätze wie „Der Verstand geht baden“ oder „Aber wenig später pfuscht man erneut mit einem ad-hoc-Mechanismus herum“ durchdringen das Buch bis zum Überdruss. Die häufige Berufung auf den gesunden Menschenverstand weckt Unbehagen; gab es nicht zahlreiche Versuche, hiermit die Relativitätstheorie zu diskreditieren?

Der Autor kritisiert einerseits, dass man Theorien wie die Allgemeine Relativitätstheorie von der Skala unseres Sonnensystems, auf der sie vornehmlich getestet wurde, unbedenklich auf galaktische Maßstäbe extrapoliert. Andererseits moniert er, dass Theoretiker Abänderungen dieser Theorie ersinnen, die seiner Meinung nach aus der Luft gegriffen sind. Aber was bleibt dann noch?

Zutreffendes wird mit Halbwahrheiten und Falschem zu einer grandiosen Melange verrührt. So beschwert sich der Autor etwa, dass Diracs Idee der Variation der Gravitationskonstante G von den heutigen Kosmologen schnöde ignoriert werde. Dabei hat schon Robert Dicke 1961 festgestellt, dass der beobachtete kleine Wert von G nur die Tatsache widerspiegelt, dass das momentane Alter des Universums von der Größenordnung der Lebensdauer eines Hauptreihensterns wie der Sonne ist. Zudem wurde Diracs Vorhersage der Variation von G, die in der Größenordnung G./G ≈ 10–10 pro Jahr liegen sollte, falsifiziert; der französische Physiker Jean-Philippe Uzan etwa listet in einem Übersichtsartikel von 2003 nicht weniger als 36 empirische Schranken an G./G auf, die zum Teil kleiner als 10–12 pro Jahr sind. Darüber hinaus sträuben sich die Physiker nicht wie behauptet gegen Modelle mit zeitabhängigen Natur-„Konstanten“; gerade die von dem Autor arg gescholtenen Stringtheoretiker üben sich hier in Vorschlägen. So wurde in dem vorliegenden Buch die Chance zu einer fundierten Kritik leider vertan. Dem reifen Leser, der sich eines gelegentlichen Schmunzelns nicht wird erwehren können, ist die Lektüre aber durchaus zu empfehlen. Unerfahrene Leser werden eher aufs Glatteis geführt. Ansonsten gilt, was Leporello im ersten Akt von Mozarts Don Giovanni singt: „Das ertrage, wem’s gefällt.“

Prof. Dr. Claus Kiefer, Institut für Theoretische Physik, Universität zu Köln

A. Unzicker: Vom Urknall zum Durchknall

Springer, Berlin 2010, VIII+332 S., geb., ISBN 9783642048364

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