Besserer Schutz vor Hochwasser
Simulationsstudien belegen, dass bereits geringfügige Verschiebung von Regengebieten sehr viel gravierendere Szenarien ergeben können.
Hochwasser betrifft weltweit mehr Menschen als jede andere Naturgefahr, mit enormen Schäden, die in einer wärmer werdenden Welt voraussichtlich weiter zunehmen. Menschen und Entscheidungsträger in gefährdeten Regionen sind jedoch oft nicht bereit, sich auf außergewöhnlich schwere Ereignisse vorzubereiten, da sie schwer vorstellbar sind und außerhalb ihrer Erfahrung liegen. In einer aktuellen Studie schlägt ein Team von Forschern um Bruno Merz und Sergiy Vorogushyn vom Deutschen Geoforschungszentrum GFZ eine neue Strategie vor, um die Gesellschaft zu motivieren, über geeignete Risikomanagementstrategien zu diskutieren: Sie entwickeln eine Reihe von hypothetischen extremen Überschwemmungsszenarien in Deutschland, indem sie vormals beobachtete Niederschlagsereignisse um einige zehn bis hundert Kilometer im Raum verschieben und deren Auswirkungen dann durch ein Hochwassermodell berechnen.
Solche Szenarien sind nicht unwahrscheinlich, da der tatsächliche Niederschlag auch mehrere Dutzend Kilometer entfernt hätte fallen können. Auf diese Weise ergeben sich Ereignisse, die mehr als doppelt so schwerwiegend sind als das verheerendste Hochwasser seit 1950 in Deutschland. Außerdem zeigt sich: In der Vergangenheit verschonte Regionen können sich nicht sicher fühlen, da sie ebenfalls schwer von Zerstörungen hätten getroffen werden können.
Von Überschwemmungen sind weltweit mehr Menschen betroffen als von jeder anderen Naturgefahr. Allein das Hochwasser vom Juli 2021 in Westeuropa forderte mehr als 220 Todesopfer und verursachte Schäden in Höhe von fast 50 Mrd. Euro. Trotz der enormen Auswirkungen außergewöhnlicher Hochwasser in den letzten Jahrzehnten und ihres prognostizierten häufigeren Auftretens in der Zukunft ist die Gesellschaft oft nicht bereit, über solche Ereignisse zu diskutieren und sich darauf vorzubereiten.
Umfragen haben gezeigt, dass Menschen sich nur schwer in Ereignisse hineinversetzen können, die sie nicht selbst erlebt haben: Sie können dann die negativen Auswirkungen von schweren Überschwemmungen nicht gut vorhersagen. Und sie neigen dazu, die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses danach zu beurteilen, wie leicht sie es sich vorstellen können. Außerdem fällt es Menschen und Organisationen generell schwer, über bedrohliche Aussichten nachzudenken, und sie fühlen sich unwohl, wenn sie für Situationen planen, die ihnen selbst schaden würden.
Daher ist die Gesellschaft oft überrascht und wenig vorbereitet, wenn Ereignisse eintreten, die schwerwiegender sind als das, was sie bisher erlebt haben – mit katastrophalen Auswirkungen. „Die mangelnde Bereitschaft, über außergewöhnliche Überschwemmungen nachzudenken und sich darauf vorzubereiten, ist besorgniserregend, da außergewöhnliche Ereignisse in einer wärmeren Welt voraussichtlich häufiger auftreten werden. Daher müssen Ausnahmeszenarien entwickelt werden, die auch von Laien verstanden werden können“, sagt Bruno Merz, am GFZ in Potsdam Leiter der Sektion „Hydrologie“ und Professor für Hydrologie an der Universität Potsdam.
Die Schwere eines Ereignisses wird häufig in Form von Wiederkehrperioden beschrieben, wie das 100- oder 1000-jährliche Hochwasser. Hierdurch wird ausgedrückt, dass ein Ereignis dieser Stärke im Schnitt nur alle 100 oder 1000 Jahre eintritt. Die Wahrscheinlichkeit dafür beträgt in einem bestimmten Jahr also 1:100 beziehungsweise 1:1000. Dieses Konzept ist für Laien jedoch nicht gut zugänglich.
Stattdessen schlägt das Forschungsteam um Bruno Merz und Sergiy Vorogushyn, leitender Wissenschaftler in der GFZ-Sektion „Hydrologie“, vor, räumliche Alternativszenarien zu nutzen. Solche kontrafaktischen Szenarien sind alternative Möglichkeiten für vergangene Ereignisse, also Szenarien, die nicht eingetreten sind, aber hätten eintreten können. Um sie zu entwickeln, verschieben die Forscher die Niederschlagsfelder vergangener Hochwasser und simulieren die Folgen, die sich ergeben hätten, wenn die Zugbahnen der verursachenden Tiefdruckgebiete einen anderen Weg genommen hätten.
„Wir gehen davon aus, dass es selbst für Laien leicht zu verstehen ist, dass sich ein Tiefdruckgebiet, das für heftigen Regen in einer bestimmten Region gesorgt hat, auch etwas anders hätte entwickeln können. Dadurch hätte eine damals verschonte Region durchaus getroffen und eine betroffene Region möglicherweise sehr viel schwerer getroffen werden können – sodass sie damals einfach nur Glück hatten“, erläutert Merz.
Die Forscher haben für ihre Studie die zehn schadensträchtigsten Hochwasser für Deutschland seit 1950 ausgewählt und die damaligen Niederschläge in drei Entfernungen – 20, 50 und 100 Kilometer – und acht Richtungen verschoben. Solche Verschiebungen sind angesichts der beteiligten Mechanismen gut begründet: Die Bahnen der niederschlagsbildenden Tiefdrucksysteme werden durch nichtlineare Wechselwirkungen auf Skalen von etwa 1000 Kilometern oder mehr dominiert. Daher können sich die Niederschlagsfelder einzelner Ereignisse bei einer etwas anders gelagerten meteorologischen Gesamtsituation auch anders entwickeln. Diese 24 kontrafaktischen Niederschlagsereignisse für jede der zehn größten Katastrophen wurden in ein Hochwassermodell gespeist, um damit die Schwere des Hochwassers für die entsprechenden Regionen in Deutschland zu quantifizieren.
Es stellte sich heraus, dass die Verschiebung der Niederschläge zu viel schwereren Überschwemmungen führen kann, als beim tatsächlich eingetretenen Ereignis. Als Beispiel sei hier das Weihnachtshochwasser 1993 betrachtet. Weiträumige und teilweise extreme Niederschläge im Dezember 1993 führten an Weihnachten 1993 zu Überschwemmungen entlang des Mittel- und Niederrheins, die in drei Bundesländern mehrere Todesopfer und erhebliche materielle Schäden zur Folge hatten. Allein in Köln waren mehr als 13.500 Haushalte betroffen. Ein kontrafaktisches Hochwasser ergibt sich hier aus einer Verschiebung des Niederschlagsfeldes um 50 Kilometer in Richtung Nordosten. Wäre der Regen dort gefallen, dann wären viele der vom Hochwasser betroffenen Orte noch stärker betroffen gewesen. Und zusätzlich wären viele Orte, die von der Katastrophe verschont geblieben sind, von Flusswasserständen betroffen gewesen, die die Hochwasserschutzanlagen überstiegen hätten.
Flussabschnitte im Einzugsgebiet der Weser, die 1993 nur geringfügig betroffen waren, hätten beispielsweise Überschwemmungen größer als das 100-jährliche Hochwasser erlebt. Insgesamt erzeugen die kontrafaktischen Szenarien an mehr als 70 Prozent der von in dieser Studie betrachteten 516 Flusspegel in ganz Deutschland Spitzenabflüsse, die das aktuell dort verzeichnete Rekordhochwasser übersteigen.
„In Anbetracht der Tatsache, dass sich das Risikomanagement in der Regel auf die größten beobachteten Hochwasser konzentriert, ist die Leichtigkeit, mit der durch unseren Ansatz viele neue Hochwasserrekorde erzeugt werden, beunruhigend“, resümiert Merz. „Unser neuer Ansatz ist in der Lage, plausible Ausnahmeszenarien zu generieren, die genutzt werden könnten, um Laien das Hochwasserrisiko zu vermitteln und das Hochwasserrisikomanagement zu unterstützen. Auch wenn sich bei außergewöhnlichen Hochwasserereignissen Schäden nicht vollständig verhindern lassen, kann das Risikomanagement die katastrophalen Auswirkungen begrenzen“, ergänzt Sergiy Vorogushyn.
So können Vorhersage-, Frühwarn- und Evakuierungssysteme Todesopfer verhindern. Durch Raumplanung und Infrastrukturmanagement kann sichergestellt werden, dass sensible Infrastrukturen wie Altenpflegeheime und kritische Infrastrukturen wie Kraftwerke entweder nicht in gefährlichen Zonen liegen oder gegen Überschwemmungen geschützt sind.
Darüber hinaus kann das Infrastrukturmanagement Sicherungs- und Redundanzmaßnahmen für einen kontinuierlichen Betrieb bei Überschwemmungen vorsehen und Maßnahmen entwickeln, die eine rasche Rückkehr zu einem Mindestbetriebsniveau ermöglichen, wenn ein Ausfall nicht verhindert werden kann.
GFZ / DE