Eine starke Verbindung
Die Zusammenarbeit von Chemie und Physik ist essenziell für die Lösung der großen Zukunftsfragen.
Als die UNESCO zu Beginn dieses Jahres das Internationale Jahr der Chemie ausrief, geschah dies ganz bewusst genau hundert Jahre, nachdem Marie Curie den Nobelpreis für Chemie erhalten hatte. Diese herausragende Wissenschaftlerin, die einige Jahre zuvor bereits mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet worden war, steht am Beginn einer langen und guten Zusammenarbeit zwischen Chemie und Physik ohne gegenseitige Berührungsängste. Mir persönlich sind solche Ängste als Physikochemiker, der seine Diplom- und Doktorarbeit in einer Abteilung für die Physik der Polymeren erstellt hat und Vorsitzender der Bunsengesellschaft war, ohnehin fremd. Außerdem weichen die Grenzen zwischen den klassischen Naturwissenschaften immer mehr auf, ob im Zuge der MINT-Initiative an den Schulen oder im Rahmen neuer interdisziplinärer Studiengänge, zum Beispiel für Nanotechnologie. Und kaum eine wissenschaftliche Kooperation an der Hochschule oder mit der Industrie kommt ohne die Zusammenarbeit von Chemikern und Physikern aus.
Prof. Dr. Michael Dröscher ist Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh), Cluster Manager CHEMIE.NRW und Senior Advisor Innovation Management bei der Evonik Degussa GmbH.
Schließlich haben wir gemeinsam zur Lösung wichtigster Zukunftsfragen beizutragen. Werkstoffe und Materialien sind ein solches Thema. Ohne die chemischen Strukturen dieser Werkstoffe zu entschlüsseln und weiterzuentwickeln, geht es ebenso wenig, wie ohne die Bestimmung und Beschreibung der physikalischen Eigenschaften. Hier möchte ich die großen Aufgaben bei der Bereitstellung, Speicherung und Nutzung von Energie aufgreifen, die ohne Beiträge der Chemie und Physik nicht zu bewältigen sein werden. Noch haben wir beispielsweise nicht die theoretischen Speicherkapazitäten von Lithiumionen-Batterien erreicht. Außerdem gilt es, die großen Potenziale von Elektrodenmaterialien und Elementaufbau auszuschöpfen. Auch bei der Photovoltaik sind wir noch weit vom maximalen Wirkungsgrad entfernt. Bei den Leuchtmitteln sind die anorganischen und organischen Leuchtdioden erst in einer frühen Phase der Lernkurve angekommen, und selbst die Wirkungsgrade der konventionellen Kraftwerke sind noch lange nicht ausgereizt. Das 2009 von der Gesellschaft Deutscher Chemiker und anderen Organisationen veröffentlichte Positionspapier „Energieversorgung der Zukunft“ enthält zahlreiche weitere Beispiele.
Lassen Sie mich aber einen anderen Aspekt der Energieforschung aufgreifen und zu Marie Curie zurückkommen. Sie war eine herausragende Persönlichkeit, die die Wissenschaft nicht nur am Schreibtisch, sondern, wie in der Chemie üblich, im Labor erarbeitet hat. Wir kennen die Bilder, die sie beim Rühren eines großen Kessels zeigen, mehr Handwerk als Feinchemie, wie so oft in der Chemie. Marie Curie hat sich gegen alle Widerstände zielstrebig und erfolgreich durchgesetzt und ist damit auch heute noch ein Vorbild für junge Frauen, die Naturwissenschaften studieren.
Auch Marie Curies Tochter, Irene Joliot Curie, war Physikerin und hat 1935 ebenfalls den Chemie-Nobelpreis bekommen. Beide, Mutter wie Tochter, wurden für Entdeckungen auf dem Feld der Radioaktivität ausgezeichnet. Sie sind dabei, nach heutigen Maßstäben, unsachgemäß mit diesen gefährlichen Substanzen, deren Wirkung auf die eigenen Gesundheit sie nicht vollständig kennen konnten, umgegangen. Dies sollte uns nicht als Vorbild dienen. Wir können aber heute daraus lernen, dass wir unsere Erkenntnisgrenzen nicht immer wahrnehmen. Nicht alle Technologien, die wir Naturwissenschaftler und Ingenieure entwickeln und glauben beherrschen zu können, beherrschen wir dann im Ernstfall wirklich. Im Spannungsfeld einer wachsenden und energiehungrigen Weltbevölkerung haben wir, wie viele andere Staaten auch, auf die friedliche Nutzung der Kernenergie gesetzt. Jetzt führt uns die furchtbare Katastrophe in Japan einmal mehr vor Augen, dass unsere Technologien nicht nur von großem Nutzen für die Menschen sind, sondern sie auch bedrohen können. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach einer sicheren Energieversorgung für die Zukunft drängender denn je.
Für uns Naturwissenschaftler und Techniker wird das Bedenken unseres Tuns weiterhin einen größeren Stellenwert haben müssen. Wir dürfen jetzt nicht an der Zukunft verzweifeln, sondern müssen mit Nachdruck unser Wissen bei der Lösung der Zukunftsthemen einbringen. Und die Beispiele, wo wir Chemiker und Physiker gemeinsam zum Erfolg beitragen können, sind, wie gezeigt, vielfältig.
Michael Dröscher