Strahldiagnostik für den LHC
Mithilfe eines Gasvorhangs lässt sich die Form und die Qualität des Teilchenstrahls bei beliebigen Energien messen – damit sind auch medizinische Anwendungen möglich.
Die Erzeugung des Teilchenstrahls ist eine komplexe Angelegenheit. Wie viele Partikel wo und wie schnell unterwegs sind, können die Forschenden zwar mithilfe aller Einstellungen im Prinzip berechnen. Aber so richtig gut überprüfen konnten sie den Zustand ihres kostbaren Strahls bislang nicht, weil die hochenergetischen Teilchen alle ihnen in den Weg gestellten Detektoren einfach zerstören würden. Ein Team aus Liverpool, Genf und Darmstadt um Carsten Welsch vom Cockcroft Institute und der Universität Liverpool hat dieses Problem gelöst: ein überschallschneller Vorhang aus Neon kreuzt den Beschleunigerstrahl und wird von ihm zum Leuchten angeregt. Daher der Name des Geräts: „Beam Gas Curtain“, kurz BGC.


Da sich der zu untersuchende LHC-Strahl in einem Vakuumrohr befindet, lässt sich dort nicht einfach ein Gas injizieren – es würde sich unkontrolliert ausbreiten, verpuffen und sogar den Beschleuniger verunreinigen. Die Lösung ist, die Gasteilchen mit Überschallgeschwindigkeit durch die Röhre zu schicken. Denn durch die hohe Geschwindigkeit behalten die Teilchen ihre Richtung bei, da Störungen sich höchstens mit Schallgeschwindigkeit ausbreiten können. Aus dem gerichteten Gasstrom lässt sich dann ein räumlich eng begrenzter Gasvorhang abschälen, der mit dem zu untersuchenden Teilchenstrahl gekreuzt wird.
Treffen die lichtschnellen Teilchen auf die Gasteilchen, geben sie Energie an diese ab. Die Neonatome können diese Zusatzenergie jedoch nur zeitlich begrenzt aufnehmen und fallen danach in ihren vorherigen Zustand zurück. Die überschüssige Energie geben sie in Form von Fluoreszenz ab. Je mehr Atome fluoreszieren, desto heller wird das Kamerasignal. Der Rückschluss auf die Zahl der Teilchen im Strahl ist intuitiv: Je heller, desto mehr. Allerdings werden längst nicht alle Teilchen des Strahls Opfer dieses Messprozesses – im Gegenteil. Pro Sekunde gehen weniger als ein 250-Millionstel der Atomkerne im LHC durch die Messung verloren. Mehr wäre auch unerwünscht, denn der Teilchenstrahl soll selbstverständlich nur so wenig wie möglich gestört werden.
Um zusätzlich einen Eindruck von den geometrischen Eigenschaften des Strahls zu bekommen – wie breit und hoch er also ist – wird der Gasvorhang unter einem 45°-Winkel mit dem Teilchenstrahl gekreuzt. Die Interaktionsfläche bekommt damit die Form einer schräg geschnittenen Scheibe. Der Detektor blickt senkrecht darauf und sieht demnach ein rundes Bild, dessen Maße Rückschlüsse auf die geometrischen Eigenschaften des Strahls sowie auf streunende Teilchen erlauben.
Dass das Ganze funktioniert, haben Welsch und sein Team in den vergangenen Jahren ausgiebig getestet. Im März 2023 installierten sie ihr Instrument während einer routinemäßigen Umbaupause am Genfer Beschleuniger. Der Gasvorhang liefert seither rund um die Uhr gestochen scharfe Bilder des Teilchenstrahls. „Wir waren überrascht, wie einwandfrei es funktioniert“, so Welsch. „Wir haben das Gerät eingeschaltet und es lieferte sofort gute Daten.“ Die ersten Ergebnisse und damit den Nachweis, dass der Gasvorhang funktioniert, hat das Team jetzt veröffentlicht.
[Anders als im Video suggeriert kann der Detektor keine einzelnen Teilchenpakete getrennt beobachten, sondern misst eine durchschnittliche Beamposition über mehrere solcher Teilchenpakete.]
Die Leistung des Gasvorhangdetektors hat sich als so gut herausgestellt, dass er seitdem mit mehr als zweitausend Stunden pro Jahr vom CERN als fortlaufendes Überwachungsinstrument der Stream-Qualität eingesetzt wird. Derzeit bauen die Forschenden ein zweites Instrument für die Überwachung des gegenläufigen Teilchenstrahls. „Dieser soll innerhalb der nächsten zwei Jahre eingebaut werden, sodass mit der neuen Technik eine dauerhafte Beamdiagnose am LHC ermöglicht wird“, blickt Welsch in die Zukunft.
Auch mit Betreibern anderer Teilchenbeschleuniger sei man bereits im Gespräch, so Welsch. Denn indem sie andere Gase oder andere Geometrien verwenden, können die Forschenden das Diagnosewerkzeug prinzipiell für fast jede Art von Beschleuniger anpassen. Besonders hilfreich ist dabei, dass der Strahlmonitor alle Energiebereiche eines Beschleunigers abdeckt. Zu den möglichen weiteren Einsatzorten zählen daher nicht nur andere Großforschungseinrichtungen, sondern auch Beschleuniger, wie sie für medizinische Zwecke in größeren Kliniken oder Bestrahlungszentren zu finden sind. Denn hier könnte mithilfe des Gasvorhangs die genaue Dosis zur Bestrahlung eines Tumors überwacht werden, während Patient:innen behandelt werden. Die Anlage müsste nicht mehr täglich für einige Zeit ruhen, um das System zu kalibrieren, und bis zu 15 Prozent mehr Zeit stünden zur Verfügung für die Behandlung von Patienten, schätzt Welsch ab: „Dadurch können 15 Prozent mehr Tumore mit dem bestehenden Gerätepark behandelt und entsprechend mehr Leben gerettet werden.“ [awk-jk / dre]
Weitere Informationen
- Originalveröffentlichung
O. Sedlacek et al. (BGC Collaboration), Full-cycle, noninvasive emittance monitoring with the beam gas curtain monitor at the LHC, Phys. Rev. Res. 7, 043144, 10. November 2025; DOI: 10.1103/5ggy-f8lm - Quantum Systems and advanced Accelerator Research QUASAR (Carsten Welsch), School of Physical Sciences, University of Liverpool
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