02.07.2025

Das künftige Flaggschiff im Fokus

Mehr als 600 Fachleute aus der Teilchenphysik haben in der vergangenen Woche in Venedig die Zukunft ihres Feldes diskutiert.

Maike Pfalz

Nicht nur die Boulevardpresse richtete Ende Juni ihren Blick nach Venedig, sondern auch die Community der Teilchenphysik. Denn als ein wichtiger Baustein auf dem Weg zum nächsten Update der Europäischen Strategie für Teilchenphysik trafen sich dort vom 23. bis 27. Juni mehr als 600 Fachleute aus fast 40 Ländern, um den Input zu diskutieren, der bis zum Frühjahr 2025 für das geplante Strategie-Update eingegangen ist. Insgesamt waren es 266 Beiträge aus der Fachcommunity, welche die Grundlage für das Open Symposium in Venedig bildeten.

2006 hatte der CERN-Council die erste Europäische Strategie für Teilchenphysik verabschiedet, 2013 und 2020 hatte es Updates gegeben, die jeweils die wichtigsten Prioritäten für das Forschungsfeld festlegten. So empfahl das letzte Update 2020 beispielsweise einen Elektronen-Positronen-Collider als „Higgs-Fabrik“ und als langfristiges Ziel für Europa einen Proton-Proton-Collider größtmöglicher Energie. 2024 hat die Arbeit am dritten Update begonnen, das im Frühjahr 2026 verabschiedet werden und insbesondere das neue Flaggschiff-Projekt am CERN identifizieren soll, das 2041 den HL-LHC ablösen könnte. 

Künstlerische Darstellung des Future Circular Collider und einer...
Künstlerische Darstellung des Future Circular Collider und einer Teilchenkollision
Quelle: PIXELRISE und CERN

Als ein solches Flaggschiff gilt der Future Circular Collider (FCC), zu dem in diesem Frühjahr eine Machbarkeitsstudie veröffentlicht wurde. Diese Anlage soll einen Umfang von 91 Kilometern haben und könnte in der ersten Ausbaustufe als Elektronen-Positronen-Collider arbeiten und Präzisionsmessungen des Higgs-Bosons sowie des Z-Bosons und des Top-Quarks erlauben. Später würde die Anlage als Proton-Proton-Collider bei einer bisher unerreichten Kollisionsenergie von etwa 100 TeV arbeiten. Die geschätzten Kosten für den Bau inklusive der Tunnelarbeiten betragen rund 15 Milliarden Euro, die großteils aus dem Jahresbudget des CERN kommen sollen.

„Der CERN-Council hat aber verlangt, dass wir auch einen Plan B vorlegen“, erläutert Karl Jakobs von der Universität Freiburg, der den Strategieprozess leitet. „Für den Fall, dass das Projekt wissenschaftlich nicht kompetitiv oder aber nicht finanzierbar ist, soll die Strategie alternative Projekte priorisieren.“ Der erste Punkt könnte eintreten, wenn China den Circular Electron Positron Collider (CEPC) in seinen nächsten 5-Jahres-Plan für die Jahre 2026 bis 2030 aufnimmt. Dieser ist ebenfalls mit einem Beschleunigerring von 100 km Umfang geplant und könnte deutlich früher in Betrieb gehen als der FCC. „Wenn es das Projekt in den 5-Jahres-Plan schafft, wird es auch realisiert“, ist Karl Jakobs überzeugt. In diesem Fall käme die erste Stufe des FCC zu spät und wäre somit wissenschaftlich nicht mehr kompetitiv. Eine Möglichkeit für CERN bestünde in diesem Fall darin, direkt einen Proton-Proton-Collider zu realisieren. 

Europäische Strategie für Teilchenphysik

Stefan Jorda • 9/2006 • Seite 7

Höchste Priorität für höchste Energien

Stefan Jorda • 7/2013 • Seite 10

Höchste Priorität für den LHC

Kerstin Sonnabend • 9/2020 • Seite 6

Ein Blick in die nahe und ferne Zukunft

Alternative Projekte könnten etwa der Compact Linear Collider (CLIC) oder die Linear Collider Facility (LCF) sein bzw. kleinere Elektronen-Positronen (LEP3) oder Elektronen-Protonen-Collider (LHeC), die den LHC-Tunnel verwenden würden und daher geringere Investitionskosten haben. Ein LEP3 Collider würde zwar die Higgs-Präzision signifikant steigern, würde aber nur eine Energie von 230 GeV erreichen und hätte somit nicht das Entdeckungspotenzial wie der FCC. „Wenn China aber den CEPC baut, macht ein solches Konzept keinen Sinn, weil das CERN dann die schlechtere Maschine hätte“, schränkt Jakobs ein. Ein Projekt wie LEP3 käme also wohl nur zum Zuge, wenn China sich gegen den Bau von CEPC entscheidet und der FCC nicht finanzierbar wäre.

Die Linear Collider Facility basiert auf dem gleichen Konzept wie der International Linear Collider, der seit rund 20 Jahren diskutiert wird und für den Japan sich als Standort beworben hatte. „Auch wenn die Japaner sich noch nicht offiziell erklärt haben, glaube ich nicht mehr an die Realisierung“, bedauert Karl Jakobs und ergänzt: „Noch gibt es aber kein klares Bild darüber, welches die beste Alternative zum FCC wäre.“

Die National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine in den USA haben in einem neuen Bericht zur Teilchenphysik einen Myonen-Collider als ein nationales Flaggschiff-Projekt identifiziert, der innerhalb der nächsten 40 Jahre zu realisieren sei. Ein solcher Collider erfordert aber noch sehr viel Entwicklungsarbeit, um überhaupt dessen Machbarkeit zu demonstrieren. Die USA waren beim Open Symposium in Venedig ebenfalls vertreten und haben ein sehr starkes Statement abgegeben, den FCC zu unterstützen. Sollte sich Japan gegen die Realisierung des International Linear Collider entscheiden, würden sie wohl ebenfalls den FCC unterstützen. 

Zukunftsprojekte

Maike Pfalz • 3/2019 • Seite 10

Ein Ring der Superlative

CERN / Alexander Pawlak • 5/2025 • Seite 17

Machbare Kollisionen?

Maike Pfalz • 1/2017 • Seite 12

Damit es CLIC macht

Maike Pfalz • 9/2016 • Seite 16

ILC: Collider auf Kurs

Insgesamt betonten alle Teilnehmenden des Open Symposiums die Notwendigkeit eines ambitionierten und innovativen Forschungsprogramms, damit das CERN in der Teilchenphysik weltweit führend bleibt. Beiträge von Forschenden angrenzender Fachgebiete zeigten zudem die engen Verbindungen zwischen Teilchen-, Kern- und Astroteilchenphysik. 

„Das Symposium war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Strategie – denn die Community muss involviert sein, weil es um die künftige Infrastruktur geht, die alle für 20 bis 40 Jahre lang nutzen wollen“, erläutert Karl Jakobs. Arbeitsgruppen zu sechs verschiedenen Feldern der Teilchenphysik sowie drei Technologiegruppen werden nun die Beiträge aus der Community und die Ergebnisse der Diskussionen in Venedig bis Ende September zu einem Briefing Book zusammenfassen. Dieses bildet die Grundlage für die European Strategy Group, welche auf dieser Basis die finalen Empfehlungen ausarbeiten wird, die schließlich im Januar 2026 dem CERN-Council vorgelegt werden. 

„Auch damit ist noch keine Entscheidung gefallen, welcher Beschleuniger gebaut wird“, führt Karl Jakobs aus. Denn nach der Priorisierung gilt es, die Finanzierung für das ausgewählte Projekt zu klären. Das ist Aufgabe des CERN-Managements und des Councils, in dem die einzelnen Mitgliedsstaaten vertreten sind.

Entscheidend für die Zukunft der Europäischen Teilchenphysik wird in jedem Fall sein, ob China sich entscheidet, den CEPC zu bauen. Denn am CERN läuft bis 2041 das Physikprogramm am HL-LHC, während China mit dem Bau seines Colliders direkt loslegen könnte. 

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