06.09.2024

Wie Schneebretter abgehen

Bruchmechanischer Prozess der Antirissausbreitung beim Lawinenabgang untersucht.

Schon eine einzelne Person im Schnee kann diesen so belasten, dass eine tiefliegende Schneeschicht kollabiert und die Schneedecke abrutscht. Fachleute sprechen in diesem Fall von Antirissen. Die grundlegenden bruchmechanischen Eigenschaften, die zu mächtigen Schneebrettlawinen führen können, sind noch weitgehend unbekannt, aber entscheidend für genaue Vorhersagen der Lawinenauslösung. Forscher um TU-Wissenschaftler Philipp Rosendahl präsentieren nun eine neuartige Methodik, die es ermöglicht, die Bruchzähigkeit schwacher Schneeschichten unter kontrollierten Bedingungen im Feld zu messen.


Abb.: Kritischer Punkt des Einsturzes: Mit der Rückseite einer Schneesäge...
Abb.: Kritischer Punkt des Einsturzes: Mit der Rückseite einer Schneesäge wird in die schwache Schicht geschnitten, bis die freigesetzte Energie des entstehenden Kragbalkens ausreicht, um einen Riss zu erzeugen.
Quelle: M. Spieler

Unsere Studie wurde durch jüngste Fortschritte in der Lawinenforschung motiviert, die durch neue experimentelle und numerische Studien angetrieben wurden. Diese lieferten uns neue Einblicke in den grundlegenden bruchmechanischen Prozess, der für die Lawinenauslösung verantwortlich ist, die sogenannte Antirissausbreitung in schwachen Schneeschichten“, so Philipp Rosendahl, Gruppenleiter des Center of Snow and Avalanche Research am Institut für Statik und Konstruktion des Fachbereichs Bau- und Umweltingenieurwissenschaften der TU Darmstadt. 

Trotz dieser bemerkenswerten Fortschritte bleiben die grundlegenden bruchmechanischen Eigenschaften schwacher Schneeschichten weitgehend unbekannt. Solche Messungen sind jedoch entscheidend für genaue Vorhersagen der Lawinenauslösung“, ergänzt Valentin Adam, der den ungewöhnlichen Versuchsaufbau für seine Promotion an der TU Darmstadt entwickelt hat. Daher zielt die Studie darauf ab, diese wichtige Wissenslücke zu schließen, indem sie eine neuartige Methodik einführt, die aus zwei wesentlichen Komponenten besteht: erstens der Entwicklung einer neuen experimentellen Technik, die es ermöglicht, die Antirisse in schwachen Schneeschichten unter kontrollierten Bedingungen im Feld zu erzeugen, und zweitens der Verwendung eines nichtlokalen mechanischen Modells, um die globale Energiebilanz beim Beginn des Antirisswachstums zu analysieren, wodurch die Forscher die Bruchzähigkeit der Schneeschichten aus den experimentellen Daten ableiten können.

Die Forscher von der TU Darmstadt, dem WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos und der Universität Rostock haben einen experimentellen Aufbau entwickelt, um zu testen, wie schwache Schichten im Schnee unter kombinierten Kompressions- und Scherungsbelastungen – der charakteristischen Belastung bei Lawinenabgängen – brechen. Dazu werden Schneeblöcke, die schwache Schichten enthalten, auf einen Schlitten montiert und in verschiedene Winkel geneigt. Mithilfe von zusätzlichen Gewichten und Schnitten in die schwache Schicht wurde ein Kollaps der Schneesäule ausgelöst – der Antiriss begann, sich instabil auszubreiten.

Der experimentelle Aufbau ermöglichte es, die Bruchzähigkeit schwacher Schichten unter einer Reihe von Bedingungen von reiner Kompression bis reiner Scherung zum ersten Mal zu bestimmen. Bisherigen Arbeiten war es nicht gelungen, signifikante Scherbeiträge für das Wachstum von Antirissen (Kollaps der Schwachschicht) im Schnee kontrolliert zu erzeugen und zu messen. Die nun veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass der Widerstand gegen Risswachstum unter scherdominierter Belastung signifikant höher ist als bei reiner Kompression – eine Beobachtung, die die Forscher zunächst nicht erwartet hatten, weil Lawinen häufiger in steilem Gelände auftreten, wo Scherbelastung dominiert. Dennoch ist dieses Rissverhalten auch bei anderen Materialien zu beobachten, die einer Kombination aus Zug- und Scherbelastung ausgesetzt sind. Neu ist, dass der Zusammenhang nun auch für gleichzeitige Druck- und Scherbelastung nachgewiesen werden konnte – denn Antirisse treten nicht nur im Schnee auf, sondern auch in anderen hochporösen Materialien wie Sedimentgestein oder Metallschäumen.

Schließlich konnten die Wissenschaftler ein Potenzgesetz identifizieren, das die Schwelle für die Rissausbreitung unter gemischter Belastung beschreibt und angibt, ob sich ein Riss unter den gegebenen Belastungsbedingungen ausbreiten wird. Die Erkenntnisse liefern einen maßgeblichen Beitrag zum Verständnis der Bruchprozesse, die zu Lawinenauslösungen führen, und sind zentral für verbesserte Lawinenprognosen. „Darüber hinaus ist das Verständnis des Bruchverhaltens in porösen Medien unter Kompression von großem Interesse in anderen angewandten Forschungsbereichen, wie der Luft- und Raumfahrt, wo leichte Konstruktionen häufig ähnlichen Belastungsbedingungen ausgesetzt sind“, so Rosendahl.

TU Darmstadt / DE


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