100 Jahre ohne Widerstand
In diesem Jahr gilt es, 100 Jahre Supraleitung, 75 Jahre Typ-II-Supraleitung, 50 Jahre Flussquantisierung und 25 Jahre Hochtemperatur-Supraleitung zu feiern.
Die Geschichte der Supraleitung ist voller Überraschungen. Sie beginnt im April 1911 mit der Entdeckung von Heike Kamerlingh Onnes und seinem Assistenten Gilles Holst, dass Quecksilber bei 4,2 Kelvin schlagartig den elektrischen Widerstand verliert. Wenn auch unerwartet, so war diese Entdeckung in gewisser Weise doch nicht zufällig, sondern das Ergebnis einer systematischen Untersuchung von Metallen bei sehr tiefen Temperaturen, die ausschließlich in Leiden möglich war – Kamerlingh Onnes hatte das Monopol auf flüssiges Helium. Über zwanzig Jahre sollte es dauern, bis Walther Meißner und Robert Ochsenfeld erkannten, dass Supraleiter über die namensgebende Eigenschaft hinaus weitere Charakteristika wie den vollständigen Diamagnetismus aufweisen. Wie Christian Joas und Georges Waysand in ihrem Artikel (s.u.) in der Juni-Ausgabe des Physik Journals, die sich schwerpunktmäßig mit der Supraleitung befasst, zeigen, ebneten diese Eigenschaften auch den Weg zu einer ersten phänomenologischen Beschreibung der Supraleitung. Angesichts des noch nicht vorhandenen quantenmechanischen Verständnisses der Festkörper waren frühe Versuche einer mikroskopischen Erklärung allerdings zum Scheitern verurteilt. Einige der klügsten Köpfe sollten sich die Zähne an diesem rätselhaften Phänomen ausbeißen, bevor es 1957 schließlich John Bardeen, Leon Cooper und Robert Schrieffer gelang, eine konsistente mikroskopische Theorie zu formulieren. Im supraleitenden Zustand bilden sich demnach Elektronenpaare, deren doppelte Ladung sich in der Quantisierung des magnetischen Flusses ausdrücken sollte. 1961 gelang es zeitgleich in Deutschland und Amerika, die Frage „two e or not two e?“ zugunsten der BCS-Theorie zu beantworten, wie Dietrich Einzel und Rudolf Gross in ihrem Artikel schildern.
Bereits Onnes machte sich Gedanken darüber, wie sich mit supraleitenden Drähten starke Elektromagnete bauen lassen. Er konnte allerdings noch nicht ahnen, dass Anwendungen grundsätzliche Einschränkungen im Weg stehen, da der supraleitende Zustand nicht nur bei zu hohen Temperaturen, sondern auch bei einer kritischen Stromdichte und einem kritischen Magnetfeld zusammenbricht. Mit der Entdeckung von Lew Schubnikow und seinen Mitarbeitern, dass sich die sog. Typ-II-Supraleiter für viel höhere Magnetfelder eignen, war der prinzipielle Weg zu Anwendungen geebnet. Doch kurz nach der Entdeckung (1936) fiel Schubnikow dem „Großen Terror“ der Stalin-Ära zum Opfer, und seine Ergebnisse gerieten in Vergessenheit. Anatoly Shepelev, dessen Vater Schubnikows erster Doktorand war, erinnert gemeinsam mit David Larbalestier an diese tragische Episode der Physik.
Weitere 25 Jahre vergingen, bevor Anfang der 60er-Jahre erste supraleitende Magnete gebaut wurden. Heute sind zigtausende supraleitende Verbindungen bekannt, eine kommerzielle Bedeutung haben aber nur einige wenige. Magnetresonanztomographen für die Medizintechnik bilden den größten Markt für Drähte aus den Nioblegierungen NbTi und Nb3Sn, die auch für wissenschaftliche Großgeräte wie den Large Hadron Collider oder Fusionsexperimente zum Einsatz kommen. Da supraleitende Bauteile aber zwangsläufig immer „hinter“ Kältetechnik „versteckt“ sind, sind Supraleiter im Bewusstsein der Öffentlichkeit längst nicht so präsent wie z. B. Laser.
In den 70er- und 80er-Jahren wuchs zwar die kommerzielle Bedeutung der Supraleitung stetig, aus Sicht der Grundlagenforschung wurde es aber ruhiger. Umso größer war der Paukenschlag, als Johannes Georg Bednorz und Karl Alexander Müller 1986 Supraleitung in den Kupraten bei bis dahin unerreicht hohen Temperaturen von 30 Kelvin entdeckten. Weltweit stürzten sich viele Gruppen auf diese verheißungsvollen Materialien und schraubten binnen weniger Monate die Übergangstemperatur immer höher. Bei der Frühjahrstagung der American Physical Society kam es 1987 zu einer legendären Sitzung, die als „Woodstock der Physik“ in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Eine ganze Nacht hindurch harrten hunderte von Wissenschaftlern in einem völlig überfüllten Hörsaal aus und informierten sich in Kurzvorträgen gegenseitig über die neuesten Entwicklungen und Rekordwerte.
Heute gelingt es immer besser, Drähte aus Kuprat-Supraleitern industriell herzustellen, die vielfältige Anwendungen in der Energietechnik versprechen. Der Mechanismus, der ihnen zugrunde liegt, ist im Detail aber immer noch nicht verstanden. Wie Jörg Schmalian schreibt, spricht allerdings vieles für einen rein elektronischen Mechanismus. Weitere 25 Jahre wie bei den klassischen Supraleitern wird es bis zur restlosen Aufklärung wohl auch nicht mehr dauern. Besonders spannend ist, dass bei einem solchen Mechanismus nichts grundsätzlich gegen die Existenz von Verbindungen spricht, die bereits bei Raumtemperatur supraleitend sind. Dies untermauern Ergebnisse an anderen „unkonventionellen“ Supraleitern wie Schwere-Fermionen-Systeme, organischen Supraleitern oder den erst vor drei Jahren entdeckten Eisenpniktiden, die – so unterschiedlich sie auch sind – überraschende Gemeinsamkeiten aufweisen.
Die Entdeckung im Jahr 2001, dass selbst eine so einfache und seit langem bekannte Verbindung wie Magnesiumdiborid (MgB2) bei erstaunlich hohen Temperaturen supraleitend ist, zeigt, dass die bereits von Onnes begonnene Suche nach neuen Supraleitern auch in Zukunft Überraschungen verspricht. Der nächste und dann siebte Physik-Nobelpreis für Arbeiten zur Supraleitung ist daher sicher auch nur eine Frage der Zeit.
Stefan Jorda