13.03.2013

Billard mit Materiewellen

Bei Ion-Atom-Stößen ist die Wellenstruktur des Projektils entscheidend.

Je nachdem, ob bei einem Ion-Atom-Stoß das Projektil weiter innen oder außen auf das Target trifft, finden zwei verschiedene Ionisationsreaktionen statt. Außerdem verhält sich das Projektil entweder als kohärente oder inkohärente Materiewelle – und das alles simultan in demselben Experiment. Dies schließen Physiker aus Messungen am Ionenspeicherring TSR des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik: Sie beschossen Heliumatome mit Sauerstoff-Ionen und beobachteten, wohin die Reaktionsprodukte flogen. Bei den inneren Stößen traten dabei Interferenzeffekte auf.  Wird ein neutrales Atom mit einem mehrfach positiv geladenen Ion beschossen, kann ein Elektron aus dem Atom herausgeschlagen werden. Vom Ort des Geschehens fliegen das Elektron, das entstandene Target-Ion und das unveränderte Projektil-Ion davon. Trifft nun das Projektil-Ion das Target-Atom nahe am Kern, wird nicht nur ein Elektron aus dem Target-Atom herausgeschlagen, sondern ein zweites vom Projektil-Ion eingefangen. In diesem Fall fliegen ein Elektron, das doppelt ionisierte Target-Ion und das Projektil mit um 1 verringerter positiver Ladung davon. Dieser Prozess wird Transfer-Ionisation genannt.

Abb.: Die Skizze zeigt oben die einfache Ionisation und unten die Transfer-Ionisation. (Bild: MPIK)

Die theoretische Beschreibung derartiger Stöße und die experimentellen Ergebnisse waren lange Zeit überhaupt nicht in Einklang zu bringen. In den letzten Jahren verdichteten sich jedoch die Hinweise, dass die quantenmechanischen Welleneigenschaften des Projektils berücksichtigt werden müssen. Dabei ist die Wellenlänge sehr viel kürzer als die von sichtbarem Licht und beträgt weniger als ein Zehntausendstel der Größe des Target-Atoms. Eine bestimmte Eigenschaft der Wellen, nämlich die Kohärenz quer zur Ausbreitungsrichtung der Welle, hat einen entscheidenden Einfluss.

Abb.: Schematische Darstellung der Materiewelle des Projektils: Die blauen Balken veranschaulichen jeweils Wellenberge – allerdings im Vergleich zum Target-Atom stark vergrößert (die Wellenlänge beträgt weniger als ein Zehntausendstel der Atomgröße). Zwischen den gestrichelten Linien verlaufen die Wellen weitgehend parallel, also kohärent. (Bild: MPIK)

Diese Art von Kohärenz bedeutet, dass die Wellenberge und -täler parallel ausgerichtet auf das Atom zulaufen. Auf welcher Breite das der Fall ist, hängt vom Projektilstrahl ab. Wenn Kohärenz über eine Breite besteht, die größer ist als das Target, tritt ein Interferenzmuster in der Richtungsverteilung der freigesetzten Elektronen auf.

Daniel Fischer vom MPI für Kernphysik und Michael Schulz von der Missouri University haben nun gemeinsam mit Kollegen einen im Ionenspeicherring TSR des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik kreisenden gepulsten Strahl von Sauerstoff-Ionen (O7+) durch Elektronenkühlung gebündelt. An einer Stelle im Ring kreuzte er einen sehr kalten Strahl von neutralem Helium. Elektronen und He+-Ionen aus der einfachen Ionisation bzw. Elektronen, He2+- und O6+-Ionen aus der Transfer-Ionisation wurden mit elektrischen und magnetischen Feldern auf großflächige orts- und zeitempfindliche Detektoren gelenkt. Wenn nur Elektronen- und Target-Ion-Detektor gleichzeitig ansprechen, hat einfache Ionisation stattgefunden, das Projektil also das Target-Atom außen getroffen. Sprechen dagegen alle drei Detektoren gleichzeitig an, hat eine Transfer-Ionisation stattgefunden, das Projektil also das Target-Atom innen getroffen.

Anhand der Geometrie des Speicherrings lässt sich abschätzen, dass die Materiewelle des Projektils über etwa einen halben Atomradius kohärent sein sollte. „Mit diesem Experiment können wir ohne irgendwelche Parameter zu verändern herausfinden, ob Kohärenz auf die Stoßionisation einen Einfluss hat“, sagt Schulz. Die beiden parallel ablaufenden Ionisationsreaktionen mit ihren verschieden großen „Einschlagsflächen“ tasten gewissermaßen die Wellenform des Projektils ab. „Oder anders herum betrachtet: Das Heliumatom ‚sieht’ entweder eine kohärente oder eine inkohärente Welle auf sich zukommen“, ergänzt Katharina Schneider, die im Rahmen ihrer Dissertation die Experimente durchgeführt hat. In der Tat ergaben die Messungen, dass die herausgeschlagenen Elektronen im Fall der Transfer-Ionisation offenbar in ganz bestimmte Richtungen nicht geflogen sind. Hier löschen sich die Elektronenwellen gegenseitig aus. Das Muster der Richtungsverteilung gleicht demjenigen aus einer vorherigen Messung, als die Wissenschaftler Heliumatome mit einem kohärenten Protonenstrahl beschossen und einfache Ionisation beobachteten. Bei der einfachen Ionisation mit Sauerstoff-Ionen tritt diese Auslöschung aufgrund der in diesem Fall auftretenden Inkohärenz aber nicht auf.

MPIK / AH

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