12.01.2022 • BiophysikMagnetismus

Der sechste Sinn: Magnetorezeption

Forscher kommen dem inneren Kompass von Lebewesen auf die Spur.

Wie ist es möglich, dass Lachse zielsicher Tausende von Kilometern zu ihren heimat­lichen Laich­gründen in Ober­läufen von Flüssen zurück­legen? Wie finden Meeres­schild­kröten quer über den Ozean den Strand, an dem sie selbst geschlüpft sind, um dort ihre Eier zu legen? Diese Art von Orientierung wird seit längerem einem „sechsten Sinn“ zugeschrieben, der auf Magneto­rezeption beruhen soll, also der Fähigkeit, das Erd­magnet­feld wahr­zu­nehmen.

Abb.: Die magneto­kraft­mikro­sko­pischen Auf­nahmen zeigen ein...
Abb.: Die magneto­kraft­mikro­sko­pischen Auf­nahmen zeigen ein ein­zelnes Magne­to­som in einem vari­a­blen äußeren Magnet­feld, dessen Rich­tung durch die Pfeile an­ge­zeigt wird. Das Feld vari­iert zwischen plus und minus 68 Milli­tesla. Die Um­magne­ti­sie­rung des Magne­to­soms äußert sich durch wech­selnde Hell-Dunkel-Kontraste. (Bild: UdS)

„Lebewesen mit Magnetsinn könnten sich das Magnetfeld für eine ziel­genaue Navigation zunutze machen“, erklärt Physiker Uwe Hartmann von der Universität des Saar­landes. Bereits seit fast fast Jahren ist bekannt, dass bestimmte Bakterien ihre Bewegungs­richtung am Magnetfeld orientieren. „Diese magneto­taktischen Bakterien besitzen in ihrem Innern Magneto­somen, winzige Kristalle aus Eisen­ver­bindungen, die ihnen durch das Erd­magnet­feld die Richtung vorgeben, in die sie sich bewegen“, erläutert Hartmann. Allerdings sind diese Bakterien lediglich passiv: Die Magnete geben die Richtung vor, ihr Verhalten wird durch auf sie wirkende Kräfte im Magnetfeld der Erde bestimmt.

Trotz jahrzehnte­langer intensiver Bemühungen konnte bislang für Lebewesen, deren Zellen einen Zellkern beinhalten, also auch etwa bei Tieren, nicht aufge­schlüsselt werden, wie der Mechanismus der aktiven Orientierung am Erd­magnet­feld über Magneto­somen als sinnes­physio­lo­gisches Phänomen funktioniert. Dem Forschungsteam um Hartmann ist es jetzt gelungen, körpereigene „Kompass­nadeln“ direkt sichtbar zu machen.

„Durch höchstauflösende mikro­skopische Abbildungen konnten wir wenige Nanometer große Eisen­oxid­partikel im olfakto­rischen Epithel von Lachsen zeigen. Über viele Jahre konnten magnetische Eigen­schaften des Gewebes nur über Magneti­sie­rungs­messungen an größeren Gewebe­proben nach­ge­wiesen werden. Es gelang jedoch bislang nie, die Magneto­somen einzelnen magnetisch sensitiven Zellen zuzuordnen“, erklärt der Experimental­physiker und Experte für Nanoskopie.

Die Untersuchungen des Teams geben erstmalig Einblick in die Beschaffen­heit und Verteilung der Magnetit­partikel in den Zellen von Lachsen und weiteren Lebewesen. „Damit könnte ein großer Teil des Rätsels um den sechsten Sinn vieler Lebewesen, vielleicht auch des Menschen, gelöst sein“, sagt Hartmann.

Basierend auf diesen direkten Einblicken in die Orientie­rungs­fähigkeit durch Magneto­rezeption wurden unter Feder­führung einer Arbeits­gruppe der Oregon State University in den USA umfang­reiche weitere experi­mentelle und theoretische Analysen durch­ge­führt. Diese zeigen über­raschender­weise eine genetische Verwandt­schaft zwischen Einzellern ohne Zellkern – also etwa den magneto­taktischen Bakterien – und Lebewesen, deren Zellen über einen Zellkern verfügen – im vorliegenden Fall den Lachsen: in Form homologer Gene, die für die Bio­minera­li­sation der Magneto­somen maßgeblich sind. Dieses ist insofern über­raschend, als dass die Prokaryoten vermutlich vor zwei bis drei Milliarden Jahren entstanden, die Kronen-Eukaryoten hingegen vor 1,2 bis 1,8 Milliarden Jahren. Damit stellt sich die fundamentale Frage, welche Bedeutung die Prokaryoten für die Entwicklung der Eukaryoten gespielt haben.

Am Beispiel der Magneto­rezeption wirft die gemeinsame Arbeit von Genetikern, Sinnes­physio­logen und Physikern also ein völlig neues evolutions­bio­lo­gisches Licht auf das Zusammen­spiel von Prokaryoten und Eukaryoten. Prokaryotische Gene, die für bestimmte Funktio­na­litäten zuständig sind – beispiels­weise für die Magneto­rezeption – wurden offen­sicht­lich an eukaryotische Zellen vererbt, was zu einer deutlichen Expression dieser Gene in bestimmten Zellen einer Reihe heutiger Lebewesen führt. Neben neuen Einblicken in den Magnet­feld­orientie­rungs­sinn hat die Arbeit eine fundamentale evolutions­bio­logische Bedeutung, indem sie Hinweise liefert, welche Rolle die Endo­symbiose – also das Aufnehmen eines Prokaryoten durch eine eukaryotische Wirtszelle – für die Eukaryo­genese spielen könnte.

UdS / RK

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