Diffusion in der Schwerelosigkeit
Klassisches Diffusionsphänomen bei Experiment in Forschungsrakete unter die Lupe genommen.
Zur Beschreibung einer wichtigen Klasse von Durchmischungseffekten, die beispielsweise bei der Strömung in einem chemischen Reaktor auftreten, werden seit Jahren verschiedenste Modelle entwickelt. Doch deren experimentelle Validierung hinkt aufgrund der Überlagerung mit Schwerkrafteffekten deutlich hinterher. Ein europäisches Forschungsteam mit Beteiligung des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR) und Partnern aus der Universität Szeged (Ungarn) und der Université libre de Bruxelles (Belgien) hat diese Lücke nun durch Experimente unter Schwerelosigkeit geschlossen.
Reaktions-Diffusions-Fronten entstehen, wenn zwei chemische Stoffe miteinander reagieren und sich gleichzeitig in einem Raum ausbreiten. Wissenschaftler können damit Probleme in Chemie und Physik, aber auch aus ganz anderen Bereichen wie etwa der Finanzwelt oder den Sprachwissenschaften modellieren und besser verstehen, da die zugrundeliegenden mathematischen Gleichungen dieselben Eigenschaften aufweisen. Komplexer wird es, wenn die Forscher diese Reaktionen mit Strömungen kombinieren. Solche Prozesse sind wichtig für technologische Anwendungen rund um Verbrennungsprozesse, der Geologie, bei der Herstellung bestimmter Stoffe und der Speicherung von Kohlendioxid. Trotz der vielfältigen Anwendungen sind wesentliche Teile dieser Systeme noch nicht vollständig verstanden.
„Bisherige Experimente zur Überprüfung von Modellen solcher Prozesse sind aufgrund von Auftriebseffekten verzerrt. Ursache dafür sind Dichteunterschiede zwischen den Reaktionslösungen. Um dieses Problem zu isolieren, haben wir an Bord einer Höhenforschungsrakete Experimente in der Schwerelosigkeit durchgeführt. Parallel dazu haben unsere Partner numerische Simulationen gemacht, um die Bedeutung von zweidimensionalen Effekten zu zeigen, die in einfachen eindimensionalen Modellen nicht berücksichtigt werden können“, umreißt Karin Schwarzenberger vom HZDR-Institut für Fluiddynamik kurz die Arbeit ihres Teams.
Das Experiment fand bereits am 1. Oktober 2022 statt – an Bord der Höhenforschungsrakete TEXUS-57, die vom Esrange Space Center, vierzig Kilometer östlich vom schwedischen Kiruna gelegen, startete. Das Kooperationsprojekt von Airbus Defense & Space, der Europäischen Raumfahrtagentur ESA und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt beförderte unter anderem auch das Experimentiermodul des Teams um Schwarzenberger an den Rand des Weltalls. Das Modul trug drei verschieden dimensionierte Reaktoren, die aus unterschiedlich eng übereinanderliegenden Glasscheiben bestehen.
Die Rakete kam auf eine Höhe von etwa 240 Kilometern. Dabei wurde für knapp sechs Minuten ein Zustand annähernder Schwerelosigkeit erreicht, in dem die Forscher ihre Experimente automatisiert ablaufen ließen – Experimente, für deren akribische Planung mehrere Jahre notwendig waren. Mit dem Eintreten der Schwerelosigkeit wurde die Reaktion gestartet. Drei hochauflösende Kameras filmten die Reaktionsfronten, die sich zwischen zwei strömenden Flüssigkeiten ausbreiten. Diese Aufnahmen waren es, denen der ganze Aufwand des Teams galt: Mit ihrer Hilfe können die Forscher nun einen ganz bestimmten Durchmischungseffekt von anderen Strömungsphänomenen trennen.
Strömungen in Flüssigkeitskanälen haben durch die Wandreibung eine ungleichmäßige Geschwindigkeitsverteilung, die in der Folge den Transport von gelösten Stoffen und diffundierenden Reaktionspartnern in der Flüssigkeit beeinflusst. Dieser Diffusionseffekt ist bekannt als Taylor-Aris-Dispersion, benannt nach den beiden Forschern, die bereits in den 1950er Jahren das Fundament für ihr Verständnis legten. Um das Zusammenspiel von Taylor-Aris-Dispersion und Reaktion der Stoffe zu beschreiben, wurden in theoretischen Arbeiten in der Vergangenheit unterschiedlich komplexe Modelle vorgeschlagen.
Im Hinblick auf Anwendungen ist es jedoch wichtig abzuschätzen, unter welchen Voraussetzungen die verschiedenen Modelle angewendet werden können. Dazu wurden Experimente notwendig, die die Taylor-Aris-Dispersion von anderen Strömungsphänomenen isolieren können. Auf der Erde ist die Taylor-Aris-Dispersion vor allem von Auftriebseffekten überlagert, die durch die Schwerkraft verursacht werden. Bislang haben Wissenschaftler sich damit beholfen, die Auftriebseffekte durch den Einsatz von flachen Reaktoren zu minimieren – vollständig gelang das jedoch nie. Denn es muss immer noch ein gewisser Bereich von Reaktorhöhen und Strömungsgeschwindigkeiten abgedeckt werden, um viele Anwendungsgebiete zu erfassen. Doch je größer das Strömungssystem ist, desto stärker wirkt die Schwerkraft. In der Schwerelosigkeit konnten die Forscher diese Einschränkungen nun überwinden.
Der Vergleich mit den Referenzexperimenten am Boden zeigte, dass bei größeren Reaktorhöhen unter Schwerelosigkeit deutlich weniger Reaktionsprodukt entsteht. Noch wichtiger waren die Bilddaten der Reaktionsfronten, die nicht durch die Auftriebseffekte verzerrt wurden. So konnten die Brüsseler Partner die Entwicklung der Front mit den verschiedenen theoretischen Modellen nachbilden. Die gemeinsame Auswertung ergab, dass in sehr flachen Reaktoren mit langsamer Strömung einfache eindimensionale Modelle verwendet werden können.
Bei größeren Reaktoren oder schnellerer Strömung sind aber zweidimensionale Modelle mit Taylor-Aris-Dispersion nötig. Innerhalb dieser Gültigkeitsbereiche können die entsprechenden Korrelationsbeziehungen nun zur Vorhersage der Produktbildung genutzt werden. Dies findet Anwendung bei der Auslegung von innovativen Reaktoren, der gezielten Synthese von Partikeln und dem Flüssigkeitstransport in geologischen Schichten, aber auch bei der Versorgung von Raumstationen, wo andere Gravitationsbedingungen als auf der Erde herrschen.
HZDR / DE
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
Y. Stergiou et al.: Unraveling dispersion and buoyancy dynamics around radial A + B → C reaction fronts: microgravity experiments and numerical simulations, npj Microgravity 10, 53 (2024); DOI: 10.1038/s41526-024-00390-8 - Transportprozesse an Grenzflächen (K. Schwarzenberger), Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf