18.11.2024

Exotischer Betazerfall in Thallium gemessen

Messung lässt sich zur Bestimmung der Sonnenentstehungszeit nutzen.

Wie lange hat eigentlich die Bildung unserer Sonne in ihrer stellaren Kinderstube gedauert? Eine inter­nationale Kolla­boration von Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftlern ist einer Antwort nun nähergekommen. Ihnen gelang die Messung des gebundenen Beta-Zerfalls von vollständig ionisiertem Thallium (205Tl81+) am Experimentier­speicherring (ESR) von GSI/FAIR. Die Messung hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Produktion von radioaktivem Blei (205Pb) in Sternen auf dem asymptotischen Riesenast, den AGB-Sternen – und kann zur Bestimmung der Sonnen­entstehungszeit genutzt werden. 

Abb.: Forscher Guy Leckenby bei der Arbeit am Speicherring ESR bei GSI/FAIR.
Abb.: Forscher Guy Leckenby bei der Arbeit am Speicherring ESR bei GSI/FAIR.
Quelle: I. Dillmann

Aktuelle Berechnungen gehen davon aus, dass die Entstehung unserer Sonne aus der Vorläufer-Molekülwolke einige zehn Millionen Jahre gedauert hat. Die Forschenden leiten diese Zahl aus langlebigen Radionukliden ab, die kurz vor der Entstehung der Sonne durch den astro­physikalischen s-Prozess erzeugt wurden. Der s-Prozess fand in der Nachbarschaft der Sonne in Sternen auf dem asymptotischen Riesenast statt – Sterne mit mittlerer Masse, die sich am Ende ihres Brennzyklus befinden. Die Radionuklide, die seit der Geburt der Sonne vor 4,6 Milliarden Jahren längst zerfallen sind, haben ihre Spuren in Form kleiner Überschuss­mengen ihrer Zerfalls­produkte in Meteoriten hinterlassen, wo sie nun nachgewiesen werden können. Der ideale Kandidat ist ein Radionuklid, das ausschließlich durch den s-Prozess erzeugt wird und keine Verun­reinigungen durch andere Nukleosynthese­prozesse aufweist. Ausschließlich der „reine-s-Kern” 205Pb erfüllt diese Eigenschaften.

Auf der Erde zerfällt das Atom 205Pb zu 205Tl, indem sich eines seiner Protonen und ein atomares Elektron in ein Neutron und ein Elektron-Neutrino umwandeln. Der Energie­unterschied zwischen 205Pb und seiner Tochter 205Tl ist so gering, dass die größeren Bindungsenergien der Elektronen in 205Pb (mit der Ladung Z=82 im Vergleich zu nur 81 Elektronen in 205Tl) den Ausschlag geben. Mit anderen Worten, wenn alle Elektronen entfernt werden, kehrt sich die Rolle von Tochter und Mutter beim Zerfall um und 205Tl erfährt einen Beta-Minus-Zerfall zu 205Pb. Dies geschieht in AGB-Sternen, wo die Temperaturen von einigen 100 Millionen Kelvin ausreichen, um die Atome vollständig zu ionisieren. Die Menge an 205Pb, die in AGB-Sternen erzeugt wird, hängt entscheidend von der Geschwindigkeit ab, mit der 205Tl zu 205Pb zerfällt. Dieser Zerfall kann jedoch unter normalen Labor­bedingungen nicht gemessen werden, da 205Tl in diesem Zustand stabil ist.

Der Zerfall von 205Tl ist energetisch nur beobachtbar, wenn das erzeugte Elektron in einem gebundenen Atomorbital von 205Pb eingefangen wird. Dies ist ein äußerst seltener Zerfalls­modus, der als gebundener Betazerfall bekannt ist. Außerdem führt der Kernzerfall zu einem angeregten Zustand in 205Pb, der nur um winzige 2,3 Kiloelektronenvolt über dem Grundzustand liegt, aber gegenüber dem Zerfall in den Grundzustand stark bevorzugt wird. Das 205Tl-205Pb-Paar kann man sich als stellares Wippenmodell vorstellen, da beide Zerfallsrichtungen möglich sind und der Gewinner von den stellaren Umgebungs­bedingungen wie Temperatur und (Elektronen-)Dichte abhängt – und von der Stärke des Kernübergangs, die die große Unbekannte in diesem stellaren Wettbewerb darstellte.

Diese Unbekannte wurde nun in einem ausgeklügelten Experiment von einem internationalen Team von Forschenden aus 37 Institutionen und zwölf Ländern entschlüsselt. Der gebundene Beta-Zerfall ist nur möglich, wenn der zerfallende Kern von allen Elektronen befreit und mehrere Stunden lang unter diesen außergewöhnlichen Bedingungen gehalten wird. Dies ist weltweit nur am Schwerionen-Experimentier­speicherring von GSI/FAIR in Kombination mit dem Fragmentseparator (FRS) möglich. „Die Messung von 205Tl81+ wurde in den 1980er Jahren vorgeschlagen, aber es hat Jahrzehnte der Beschleuniger­entwicklung und die harte Arbeit vieler Kolleginnen und Kollegen benötigt, um sie zum Erfolg zu führen“, sagt Yury Litvinov, Sprecher des Experiments. „Eine Vielzahl bahnbrechender Technologien musste entwickelt werden, um die nötigen Bedingungen für ein erfolgreiches Experiment zu erreichen – wie die Produktion von nacktem 205Tl in einer Kernreaktion, dessen Separation mithilfe des FRS sowie die Anhäufung, Kühlung, Speicherung und Messung im ESR.“

“Durch die Kenntnis der Übergangsstärke können wir nun die Raten, mit denen das Wippenpaar 205Tl-205Pb unter den Bedingungen in AGB-Sternen arbeitet, genau bestimmen“, sagt Postdoc Riccardo Mancino. Die 205Pb-Produktions­ausbeute in AGB-Sternen wurde von Forschenden des Konkoly-Observatoriums in Budapest, des INAF Osservatorio d'Abruzzo und der Universität Hull abgeleitet, indem sie die neuen 205Tl-205Pb-Zerfallsraten in ihre modernen astro­physikalischen AGB-Modelle imple­mentierten. „Die neuen Zerfallsraten erlauben uns eine zuverlässige Vorhersage, wie viel 205Pb in AGB-Sternen produziert wird und seinen Weg in die Gaswolke findet, die unsere Sonne geformt hat“, sagt Maria Lugaro, Wissenschaftlerin am Konkoly-Observatorium. „Durch einen Vergleich mit der Menge von 205Pb in Meteoriten ergibt das neue Ergebnis ein Zeitintervall von zehn bis zwanzig Millionen Jahren für die Entstehung der Sonne aus der vorge­lagerten Molekülwolke. Dies stimmt überein mit Daten von anderen radioaktiven Spezies, die durch den langsamen Neutronen­einfangprozess entstehen.“

„Unser Ergebnis unterstreicht, wie bahnbrechende experi­mentelle Einrichtungen, die Zusammenarbeit vieler Forscher­gruppen und viel harte Arbeit uns helfen können, die Prozesse im Inneren von Sternen zu verstehen. Mit unserem neuen experimentellen Ergebnis können wir ermitteln, wie lange es dauerte, bis unsere Sonne vor 4,6 Milliarden Jahren entstand”, sagt Doktorand Guy Leckenby. Die gemessene Halbwerts­zeit des gebundenen Beta-Zerfalls ist für die Analyse der Akkumulation von 205Pb im interstellaren Medium von wesentlicher Bedeutung. Aber auch andere Kern­reaktionen spielen eine Rolle, darunter die Neutronen­einfangrate von 205Pb, für die ein Experiment mit der Ersatzreaktions­methode im ESR geplant ist. 

GSI / JOL

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