21.10.2019

Früh gewarnt ist halb geschützt

Europäische Plattform bietet zeitige Warnung vor extremen Wetterlagen.

Lange Trockenperioden, Waldbrände, Starkregen und Überschwemmungen im Sommer, Schneemassen im Winter: Immer wieder leiden verschiedene Regionen Deutschlands und Europas unter extremen Klima- und Wetterereignissen – und diese könnten laut Klimaforschern und Meteorologen künftig zunehmen. Im Forschungsprojekt „Anywhere“ entwickeln Wissenschaftler der Universität Paderborn mit einem internationalen Kollegenteam eine gesamteuropäische Plattform, die präziser auf Extremwetterlagen vorbereiten soll. Die Europäische Union fördert das noch bis Dezember laufende dreijährige Projekt mit rund zwölf Millionen Euro. Beteiligt sind 31 Einrichtungen aus zwölf europäischen Ländern. 
 

Abb.: Die Frühwarn­plattform Anywhere bei einem Test­einsatz in Spanien...
Abb.: Die Frühwarn­plattform Anywhere bei einem Test­einsatz in Spanien (Bild: Anywhere Consortium)

„In unserem Forschungs­projekt entwickeln wir eine europaweite Frühwarn­plattform, das „ Anywhere Multi-Hazard Early Warning System“. Damit lassen sich Klima- und Wettersituationen, die Todesfälle und massive wirtschaftliche wie infra­strukturelle Schäden nach sich ziehen können, früher als bislang vorab identifizieren“, erklärt Matthias Habdank vom Lehrstuhl Computer­anwendung und Integration in Konstruktion und Planung von Rainer Koch. Er betreut das Projekt mit seinen Kollegen Jens Pottebaum und Philipp Scholle vom Lehrstuhl für Produkt­entstehung unter der Leitung von Iris Gräßler.

Die Anywhere-Plattform wird derzeit an sechs ausgewählten Standorten in Spanien, Italien, Frankreich, der Schweiz, Norwegen und Finnland getestet. Sie soll Behörden, Katastrophen­schutz­organisationen, Unternehmen und Bürgern künftig gebündelt eine Reihe modernster Frühwarn­tools zur Verfügung stellen. Mit diesen Anwendungen lassen sich der Zeitpunkt eines extremen Wetter­ereignisses, potentiell betroffene Orte und mögliche Auswirkungen schneller als bisher antizipieren und Schutz­maßnahmen können optimiert werden. 

„Unsere Plattform richtet sich bewusst an verschiedene Nutzer. Sie soll die öffentliche Gefahren­abwehr unterstützen, aber auch dem Selbstschutz von Unternehmen und Bürgern dienen“, betont Jens Pottebaum. Auf Korsika erproben die Wissenschaftler beispielsweise Frühwarntools, mit denen sich Waldbrände prognostizieren lassen. So kann die Bevölkerung schnell gewarnt werden und die Feuerwehr gezielt ihre Einsätze planen.

Anywhere stellt nicht nur Frühwarntools zur Verfügung, die vor einem extremen Wettereignis warnen. Die Plattform bietet auch Hilfe­anwendungen für den Katastrophenfall, mit denen rascher als bislang reagiert und Rettungsaktionen besser koordiniert werden können. „Für Behörden, Feuerwehr und Co. sind konkrete Sofort­maßnahmen interessant, der Bürger fragt sich, wie er sich selbst schützen kann und der Unternehmer, wie er sich so vorbereiten kann, dass sein Geschäft nicht einbricht und Arbeitsplätze gefährdet werden. Unsere Anwendungen sollen allen helfen“, so Matthias Habdank. Im italienischen Genua etwa testen die Wissenschaftler ein Tool, das sich bei Hochwasser einsetzen lässt. Mit der Anwendung können Katastrophen­schutz­behörden die Eltern von Schülern informieren, dass ihre Kinder in Sicherheit sind und so verhindern, dass sich die Erwachsenen selbst in Gefahr bringen. In Katalonien wird eine Anwendung erprobt, mit der LKW-Fahrer eines Nahrungs­mittel-Logistikers bei starkem Schneefall Routen planen können. Das Tool erfasst die aktuellen Straßenbedingungen und mögliche Staus. So gelangt das Fahrzeug schnellst­möglich an sein Ziel, das Unternehmen kann sein Geschäft aufrechterhalten und die Bevölkerung bekommt die benötigten Lieferungen.

Bei Anywhere arbeiten Ingenieure, Informatiker, Meteorologen, Physiker, Geologen, Juristen und Experten anderer Fachgebiete aus ganz Europa zusammen. So können bereits existierende Frühwarn- und Hilfetools in die Plattform integriert und weiter­entwickelt werden. Daneben speist sich Anywhere aus europaweiten Daten: „Unsere Plattform bezieht ihre Daten aus verschiedenen Quellen. Mittel­fristige Wetterdaten kommen beispielsweise vom Europäischen Zentrum für mittel­fristige Wetter­vorhersage (ECMWF) und lokale Wetterdaten teils von örtlichen Sensoren“, erläutert Jens Pottebaum. „Wir verwenden ein offenes Schnitt­stellen­konzept und aktuelle Standards. So konnten bereits 300 Systeme Dritter – wie Systeme von Wetterdiensten – und damit verschiedenste Vorhersage- und Auswirkungs­algorithmen integriert werden“, ergänzt Philipp Scholle. Alle Tools der Anywhere-Plattform werden an die lokalen Anforderungen von Behörden und öffentlichen wie privaten Betreibern kritischer Infrastrukturen angepasst.

Die Anywhere-Plattform integriert nicht nur Daten und Anwendungen Dritter. Sie kann auch selbst in bereits bestehende Früh­warnsysteme eingebettet werden und stellt ihre Daten und Algorithmen anderen Anwendungen zur Verfügung. Begleitend zur Frühwarn­plattform entwickeln die Paderborner Wissenschaftler außerdem eine Wissensplattform, den „Common Information Space“ (CIS). „Es geht uns nicht nur darum, Frühwarn- und Hilfetools für Extrem­wetter­lagen zu bündeln und weiter­zuentwickeln. Es sollen auch Handlungs­empfehlungen entstehen, die zeigen, wie sich die Tools bestmöglich nutzen lassen, und wir wollen die Entwicklung weiterer Anwendungen fördern – vor allem zum Selbstschutz der Bürger“, betont Matthias Habdank. Der CIS bietet Entwicklern daher Werkzeuge und Guidelines, mit denen sich weitere Frühwarn- und Hilfetools programmieren lassen.

Um möglichst viele Menschen zu erreichen, sind Sprache und Form der Frühwarn­plattform flexibel anpassbar. „Prinzipiell ist alles möglich, was web- oder cloudbasiert ist“, erklärt Jens Pottebaum. „In den Lagezentren von Behörden wird die Plattform beispielsweise als PC-Software verwendet, bei unseren lokalen Fallstudien kommen teilweise Apps zum Einsatz.“ Einige der Plattform-Tools arbeiten außerdem mit Warn­meldungen, die etwa über Twitter und den Kurz­nachrichten­dienst Telegram verschickt werden können.

Nach Projektende werden einige der Frühwarn- und Hilfetools für Behörden, Unternehmen und Bürger kostenfrei verfügbar sein – jeweils angepasst an regionale Gegebenheiten und Anforderungen. Der Common Information Space ist dann ebenfalls frei zugänglich. Einige Ergebnisse von Anywhere werden außerdem in neuen Forschungs­projekten genutzt, um an einem internationalen Standard zur Nutzung von Social Media in der Gefahren­abwehr zu arbeiten. 

U. Paderborn / DE
 

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