05.08.2015

Gemeinsam gegen die Temperatur

Nicht-thermische Viel-Teilchen-Lokalisierung bei Kaliumatomen in optischem Gitter beobachtet.

Was passiert, wenn man kaltes und heißes Wasser mischt? Nach einer Weile ist das Wasser lauwarm – das System hat ein neues thermisches Gleichgewicht erreicht. Das geschieht nicht nur, wenn man kalte und heiße Flüssigkeiten mischt, also etwa kalte Milch in frisch gebrühten Kaffee kippt, es gilt für praktisch alle wechsel­wirkenden Systeme, die wir aus der Natur kennen: Auf lange Sicht nähern sie sich einem bestimmten thermisch ausgeglichenen Zustand mit einer dazugehörigen Temperatur an. In diesem Zustand verhält sich ein System in der Regel sehr klassisch, man kann es trotz Abermilliarden von Teilchen mit einfachen physikalischen Größen wie Temperatur, Dichte oder Druck beschreiben. Jeder ursprüngliche Quanteneffekt verflüchtigt sich im gesamten System und lässt sich normaler­weise nicht mehr detektieren.

Abb.: Den Atomen wird eine Dichtemodulation aufgeprägt. Es befinden sich abwechselnd viele und wenige Atome auf benachbarten Gitterplätzen (1). Für einen Zustand ohne Unordnung wird die Dichtemodulation schon nach kurzer Zeit komplett ausgewaschen (2). Ganz anders verhält sich der Vielteilchen-lokalisierte Materiezustand (3). Hier bleiben Reste der anfänglichen Dichtemodulation auch für lange Zeiten bestehen. (Bild: M. Schreiber, LMU)

Forscher der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik (MPQ) in Garching unter Leitung von Immanuel Bloch und Ulrich Schneider haben nun erstmals einen neuen Materiezustand im Experiment erzeugt und analysiert, bei dem es sich anders verhält: eine sogenannte „Viel-Teilchen-Lokalisierung“ (many-body localization, MBL) von wechselwirkenden Fermionen. Trotz der Wechselwirkungen der Atome kommt das System nicht ins thermische Gleichgewicht. In diesem speziellen Zustand behält das System eine Erinnerung seines ursprünglichen Quantenzustands, und das sogar für sehr lange Zeit. „Unsere Arbeit ist wichtig für die Frage, wie eigentlich Temperatur, eine makroskopisch messbare Größe, in Materie entsteht und welche Umstände dazu führen, dass dies nicht passiert“, sagt Bloch. Nur Systeme im thermischen Gleichgewicht lassen sich auch über die Temperatur beschreiben. Die Münchner Wissenschaftler arbeiteten eng mit der Theorie-Gruppe von Ehud Altman vom Weizmann-Institut in Rehovot zusammen.

In Metallen können sich Teilchen, die Energie und eine elektrische Ladung tragen, frei bewegen und sich über das gesamte Material verteilen. Dies führt schließlich zu einem thermischen Gleichgewicht. Allerdings gibt es auch Mechanismen, die einen solchen Energietransport behindern. Bei einem Bandisolator beispielsweise, in dem die Elektronen im Material nicht frei beweglich sind, sondern fest an ihr jeweiliges Atom gebunden, sind bei jedem Atom des Kristalls sämtliche Energieniveaus und -hüllen komplett besetzt. Aufgrund des Pauli-Prinzips wandern die Elektronen nicht in die bereits gefüllte Hülle eines Nachbaratoms. Quanten-Teilchen können ebenfalls örtlich eingeschränkt und festgehalten sein, wenn die perfekte kristalline Anordnung zum Beispiel durch Fehlstellen oder Fremdatome gestört ist. Dahinter steckt ein Mechanismus, der nach dem amerikanischen Nobelpreisträger Philip Warren Anderson benannt ist. In realen Festkörpern jedoch wirkt keiner dieser Mechanismen uneingeschränkt. In einem Bandisolator etwa wird immer ein Teil der Ladungsträger thermisch angeregt und ermöglicht so freie Bewegung. In einem ungeordneten Anderson-Isolator, in dem die Elektronen idealerweise ortsgebunden sind, werden diese aufgrund thermischer Schwingungen des Kristallgitters herumgestoßen, so dass sie sich schließlich über das ganze System verteilen können.

Was aber passiert, wenn die Teilchen in einem festen Gitter gefangen sind, das nicht schwingt? Bleibt das gesamte System dann sogar bei höheren Temperaturen lokalisiert und kann daher kein thermisches Gleichgewicht erreichen? Das ist noch immer eine ungelöste fundamentale Frage der Festkörperphysik. Anderson formulierte seine Theorie der Lokalisierung ursprünglich für nicht-wechselwirkende Teilchen. Wenn aber Teilchen wechselwirken – was sie üblicherweise auch tun –, erhält ein Teilchen einen Stoß durch ein anderes Teilchen und sollte aufgrund der thermischen Bewegung seiner Nachbarteilchen nicht mehr ortsgebunden bleiben. Bemerkenswerterweise sagte ein amerikanisches Physikerteam 2005 auf theoretischer Basis genau das Gegenteil voraus: Unter speziellen Umständen könnte ein MBL-Materiezustand bis zu einer kritischen Temperatur stabil bleiben. Oberhalb dieser kritischen Temperatur oder bei zu geringen Fehlordnungen wären die Teilchen nicht mehr ortsgebunden und das System würde ein thermisches Gleichgewicht erreichen. Heute weiß man, dass dieser exotische Übergang eine klare Grenze darstellt zwischen einem makroskopischen System mit starkem Quanten-Verhalten und einem System, in dem Quanteneffekte im Spiel der Kräfte eliminiert werden.

Das Phänomen der Viel-Teilchen-Lokalisierung ist von fundamentalem Interesse, da es das einzige bekannte Beispiel in der Natur ist, wo ein Materiezustand aus vielen Teilchen nicht ins thermische Gleichgewicht kommt – und das in einer sehr robusten Art und Weise. Sie kennzeichnet gleichzeitig ein neues System, das sich nicht durch klassische Thermodynamik und statistische Physik beschreiben lässt; dafür bedürfe es neuer theoretischer und experimenteller Ansätze, sagt Immanuel Bloch. Gleichzeitig sind Viel-Teilchen-Lokalisierungen von Interesse für mögliche Anwendungen bei der Entwicklung von Quantencomputern, denn sie sind besonders immun gegen Störungen. Mit ihr lassen sich Quanteninformationen möglicherweise sicher speichern und davor schützen, dass sie ihre Kohärenz verlieren. Aber trotz seiner grundlegenden Bedeutung fehlte bis heute eine experimentelle Bestätigung und Beobachtung des Phänomens.

Die Forschergruppen aus München und Rehovot konnten nun für ultrakalte Kaliumatome, die in einem künstlichen Kristallgitter aus Licht eingesperrt waren, solche MBL-Zustände beobachten. Dieses sogenannte optische Gitter erzeugten die Forscher mit mehreren sich überlagernden, interferierenden Laserstrahlen. „Durch unsere Laser können wir das Potenzialgebirge, in dem sich die Atome bewegen, genau kontrollieren“, sagt Bloch. „Damit können wir im Experiment sowohl den Grad der Unordnung als auch die Stärke der Wechselwirkung zwischen den Atomen so einstellen, wie wir wollen.“

Das Team testete nun, ob die wechselwirkenden Atome das gesamte System in ein thermisches Gleichgewicht bringen. Dazu verteilten sie die Atome unterschiedlich dicht in ihrem optischen Gitter, mal waren in einem Gitterplatz mehr, mal weniger Kaliumatome. Diese künstlich aufgeprägte Dichtewelle aus Atomen ist ähnlich einer Welle, die auch Höhen und Tiefen hat. Die Forscher beobachten dann, ob sich die Dichte­modulation im Lauf der Zeit verändert und sich die Atome gleichmäßig verteilen. Sollten die Wechselwirkungen dazu führen, dass sich ein thermisches Gleichgewicht einstellt, müsste die Dichte­modulation schnell verschwinden. Denn ein thermisches Gleichgewicht trägt keine Erinnerung seines Ausgangszustands in sich. Umgekehrt weist eine dauerhafte Dichtemodulation auf eine Viel-Teilchen-Lokalisierung hin. Die Forscher veränderten in den Experimenten systematisch den Grad der Unordnung und die Stärke der Wechselwirkung und legten so nach und nach die Grenzen der Lokalisierungs-Phase fest.

Das Weizmann-Team stützte die experimentellen Daten mit theoretischen Berechnungen und Simulationen, ein komplexes Unterfangen. Sind nämlich Wechselwirkungen zwischen Atomen vorhanden, wird das Problem überaus kompliziert, denn dann müssen auch gemeinsame Quantenbewegungen aller Teilchen berücksichtigt werden. Ein Nicht-Wechselwirkungs-Problem lässt sich auf jedem Heimrechner lösen, aber schon für lediglich vierzig Teilchen, die miteinander in Wechselwirkung stehen, mussten die Weizmann-Theoretiker leistungsstarke Supercomputer nutzen, wollten sie deren Verhalten auch nur für kurze Zeitspannen simulieren.

„Wir waren erstaunt, dass wir den neuen Materiezustand tatsächlich beobachten können“, sagt Michael Schreiber, Erstautor der Veröffentlichung. „Obwohl er eine starke Quanten-Charakteristik hat, ist er doch stabiler als jeder andere typische Viel-Teilchen-Zustand, den wir in der Vergangenheit untersucht haben.“

MPQ / DE

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