Neues Quasiteilchen in Seltenerdmaterial entdeckt

Kieler Physik löst jahrzehntelanges Rätsel in einem Quantenmaterial – Polaronen erklären, warum die elektrische Leitfähigkeit plötzlich verschwindet.

In manchen Materialien verhalten sich die Elektronen dabei besonders ungewöhnlich: Sie wechseln zwischen unterschiedlichen Zuständen, beeinflussen einander stark und können sogar dazu führen, dass ein Metall plötzlich zu einem Isolator wird. Ein internationales Team um Chul-Hee Min und Kai Rossnagel an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat jetzt einen entscheidenden Mechanismus entschlüsselt in einer Verbindung aus Thulium, Selen und Tellur. Diese Metalle zeigen besondere elektronische Eigenschaften, die in vielen Schlüsseltechnologien eingesetzt werden. Das Team entdeckte ein in dem Stoff bislang unbekanntes Quasiteilchen, das durch die Wechselwirkung von Elektronen und Atomen entsteht. Es erklärt, warum das Material seine elektrischen Eigenschaften verändert. 

Am Nanowissenschafts-Messplatz ASPHERE bei PETRA III am DESY untersuchen Matthias Kalläne (links), Jens Buck (mitte) und Kai Rossnagel (rechts) Materialien mit hochpräziser Synchrotronstrahlung – ein Teil der Experimente entstand hier.
Am Nanowissenschafts-Messplatz ASPHERE bei PETRA III am DESY untersuchen Matthias Kalläne (links), Jens Buck (Mitte) und Kai Rossnagel (rechts) Materialien mit hochpräziser Synchrotronstrahlung – ein Teil der Experimente entstand hier.
Quelle: Heiner Müller-Elsner, DESY

Steigt der Telluranteil x in der Verbindung TmSe₁₋Te auf xc = 0,29, hört das Material auf, Strom zu leiten, und verwan­delt sich vom Halb­metall in einen Isolator. Diese Über­gänge zeigen, dass sich die Eigen­schaften eines Materials nicht allein aus der chemischen Zusammen­setzung erklären lassen. Elektronen beeinflussen einander stark, koppeln sich an die Schwingungen des Kristall­gitters – das regel­mäßige Netz aus Atomen im Fest­körper – und bilden gemeinsam teilchen­artige Zustände mit neuen Eigen­schaften.

Die Forschenden untersuchten das Material auf atomarer Ebene, um diese Prozesse zu verstehen. Die Messungen führten sie mit hoch­auflösender Photo­emis­sions­spektro­skopie an verschiedenen Synchro­tron­strahlungs­quellen weltweit durch, unter anderem im Ruprecht-Haensel-Labor von CAU und DESY. Sie bestrahlten die Probe mit intensiver Röntgen­strahlung und maßen die Aus­tritt­swinkel und -energien der Elektronen. Die Spektren zeigen, wie stark Elektronen in bestimmten Zuständen gebunden sind und geben Aufschluss über die zugrunde liegenden Wechsel­wirkungs­prozesse.

Die spektroskopischen Messungen offenbarten neue Details über die Elektronen­bewegung im Material: Immer wieder tauchte ein kleines zusätz­liches Signal auf, das wie eine kleine Beule neben dem Haupt­signal wirkte. Zunächst hielten die For­schen­den es für eine tech­nische Un­schärfe, doch das Signal zeigte sich auch bei wieder­holten Mes­sungen. Dieses wieder­kehrende Phäno­men gab dem Kieler Team Anlass, die Geschichte und das Ver­halten des Mate­rials systema­tisch über Jahre hinweg zu unter­suchen – eine Spuren­suche, die schließ­lich zur Ent­deckung der Quasi­teilchen führte.

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Seit zehn Jahren erforscht Chul-Hee Min dieses Material. Zunächst war er auf der Suche nach topologischen Oberflächenzuständen, später lag sein Fokus auf dem elektronischen Verhalten im Inneren des Materials. Lange blieb das zusätzliche Signal neben dem Hauptpeak ein ungelöstes Rätsel.

Erst nach jahrelanger Analyse und enger Zusammenarbeit mit internationalen Theoretiker:innen identifizierte das Team die Ursache: Das Signal stammt von Polaronen, Quasiteilchen, bei denen ein Elektron eng mit den Schwingungen des Kristallgitters gekoppelt ist. Das Elektron bewegt sich gemeinsam mit der Verzerrung der Atome und bildet so ein neues, zusammengesetztes Teilchen.

In ihrer Arbeit nutzten die Forschenden das periodische Anderson-Modell, das theoretisch beschreibt, wie Elektronen in solchen Metallen miteinander wechselwirken. Indem sie das Modell um die Kopplung der Elektronen an die Schwingungen des Kristallgitters erweiterten, konnten sie die spektroskopischen Messungen genau erklären. „Das war der entscheidende Schritt“, erklärt Min. „Sobald wir diese Wechselwirkung in die Berechnungen einbezogen, passten Simulation und Messungen perfekt zusammen.“

Ein Polaron lässt sich anschaulich als eine Art Tanz zwischen einem Elektron und den es umgebenden Atomen beschreiben. In gewöhnlichen Metallen fließen Elektronen fast frei. In diesem Material bewegen sie sich jedoch gemeinsam mit leicht verzerrten Atomlagen, vergleichbar mit einer Delle, die durchs Kristallgitter wandert. Diese Kopplung verlangsamt die Elektronen, ändert die elektrische Leitfähigkeit und erklärt den Übergang zum Isolator.

„In Quantenmaterialien wie TmSe₁₋Te, deren exotische Eigenschaften von den quantenmechanischen Eigenschaften ihrer Elektronen herrühren, wurde dieser Effekt bisher nicht experimentell nachgewiesen“, sagt Professor Rossnagel, Direktor am Institut für Experimentelle und Angewandte Physik an der CAU und Sprecher des Forschungsschwerpunkts KiNSIS – Kiel Nano, Surface and Interface Science. „Dass wir ihn hier erstmals sichtbar machen konnten, zeigt, welche interessanten neue Phänomene in den Quantenkosmen von Materialien noch zu entdecken sind.“

Die Erkenntnisse wirken über das untersuchte Material hinaus. In vielen modernen Quantenmaterialien – von Hochtemperatursupraleitern bis zu 2D-Materialien – treten ähnliche Kopplungseffekte auf. Forschende könnten Polaronen zukünftig gezielt einsetzen, um elektronische, optische oder magnetische Materialeigenschaften zu steuern oder gänzlich neue Materiezustände zu erzeugen. „Solche Entdeckungen entstehen oft aus hartnäckiger Grundlagenforschung“, sagt Rossnagel. „Aber sie sind genau das, was langfristig zu neuen Technologien führen kann.“ [CAU / dre]

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