Higgs zerfällt in zwei Myonen
Higgs-Boson wechselwirkt erstmals mit Elementarteilchen der zweiten Generation.
Auf der 40. Internationalen Konferenz für Hochenergiephysik ICHEP, die wegen der Pandemie virtuell stattfand, berichteten die Kollaborationen der CERN-Experimente ATLAS und CMS über den Zerfall eines Higgs-Boson in zwei Myonen. Dieser Prozess ist ein seltenes Phänomen, da nach ersten Messungen nur etwa ein von 5000 Higgs-Bosonen in Myonen zerfällt. Diese neuen Ergebnisse sind für die Physik von zentraler Bedeutung, weil sie zum ersten Mal zeigen, dass das ein Higgs-Boson mit Elementarteilchen der zweiten Generation wechselwirkt.
Die Teilchenphysiker am CERN untersuchen das Higgs-Boson seit seiner Entdeckung im Jahr 2012, um dessen Eigenschaften zu erforschen. Das Higgs-Boson, das bei Protonenkollisionen am Large Hadron Collider entsteht, zerfällt fast augenblicklich in andere Teilchen. Eine der Hauptmethoden zur Untersuchung der Eigenschaften des Higgs-Bosons besteht in der Analyse des Zerfalls selbst und der Zerfallsrate. Der CMS-Detektor konnte diesen Zerfall mit drei Sigma nachweisen. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, das Higgs-Boson durch statistische Fluktuation in ein Myonenpaar zerfallen zu sehen, weniger als eins zu 700 beträgt. Das Zwei-Sigma-Ergebnis von ATLAS bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit bei eins zu vierzig liegt. Die Kombination beider Ergebnisse erhöht die Signifikanz deutlich über drei Sigma und liefert starke Hinweise auf den Zerfall des Higgs-Bosons in zwei Myonen.
„CMS ist stolz darauf, diese Empfindlichkeit für den Zerfall von Higgs-Bosonen zu Myonen erreicht zu haben und den ersten experimentellen Nachweis für diesen Prozess zu erbringen. Das Higgs-Boson scheint in Übereinstimmung mit der Vorhersage des Standardmodells auch mit Teilchen der zweiten Generation zu interagieren. Ein Ergebnis, das mit den Daten, die wir voraussichtlich im nächsten Lauf sammeln werden, weiter verfeinert werden wird“, sagt Roberto Carlin, Sprecher des CMS-Experiments.
Das Higgs-Boson verleiht über den Brout-Englert-Higgs-Mechanismus den Elementarteilchen, mit denen es in Wechselwirkung tritt, Masse. Durch Messung der Zerfallsrate des Higgs-Bosons in verschiedene Teilchen können die Physiker auf die Stärke ihrer Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld schließen: Je höher die Zerfallsrate in ein bestimmtes Teilchen, desto stärker die Wechselwirkung mit dem entsprechenden Feld. Bisher haben die Experimente ATLAS und CMS den Zerfall des Higgs-Bosons in verschiedene Arten von Bosonen wie W und Z sowie in schwerere Fermionen wie Tau-Leptonen beobachtet. Die Wechselwirkung mit den schwersten Quarks, den Top- und Bottom-Quarks, wurde 2018 gemessen. Myonen sind im Vergleich dazu viel leichter und ihre Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld entsprechend schwächer. Wechselwirkungen zwischen dem Higgs-Boson und Myonen waren daher bisher am LHC noch nicht beobachtet worden. „Die Messungen der Eigenschaften des Higgs-Bosons haben eine neue Stufe der Präzision erreicht und seltene Zerfallsmoden können angegangen werden. Diese Erfolge beruhen auf dem großen LHC-Datensatz, der herausragenden Effizienz und Leistung des ATLAS-Detektors und dem Einsatz neuartiger Analysetechniken“, sagte Karl Jakobs, Sprecher von ATLAS.
Am LHC werden für jedes vorhergesagte Higgs-Boson, das in zwei Myonen zerfällt, Tausende von Myonenpaaren durch andere Prozesse erzeugt. Die charakteristische Signatur des Zerfalls des Higgs-Bosons zu Myonen ist ein kleiner Überschuss an Ereignissen, die sich in der Nähe einer Myon-Paar-Masse von 125 Gigeelektronenvolt, der Masse des Higgs-Bosons, häufen. Das Higgs-Boson in Myon-Paar-Wechselwirkungen zu isolieren, ist keine leichte Aufgabe. Zu diesem Zweck messen beide Experimente die Energie, den Impuls und die Winkel der Myonkandidaten aus dem Zerfall des Higgs-Bosons. Darüber hinaus wurde die Empfindlichkeit der Analysen durch ausgeklügelte Modellierungsstrategien und andere Techniken wie maschinelles Lernen verbessert. CMS kombinierte vier separate Analysen, um die physikalischen Ereignisse zu kategorisieren. ATLAS teilte ihre Ereignisse in zwanzig Kategorien ein, die auf bestimmte Produktionsmodi von Higgs-Bosonen abzielten.
Für die Ergebnisse, die bisher mit den Vorhersagen des Standardmodells übereinstimmen, wurde der vollständige Datensatz aus dem zweiten Lauf des LHC verwendet. Da beim nächsten Lauf des Teilchenbeschleunigers noch mehr Daten aufgezeichnet werden müssen, erwarten die ATLAS- und CMS-Kollaborationen, dass sie die Empfindlichkeit von fünf Sigma erreichen werden. Diese ist erforderlich, um die Entdeckung des Zerfalls des Higgs-Bosons in zwei Myonen abzusichern.
CERN / JOL
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
ATLAS Collaboration: A search for the dimuon decay of the Standard Model Higgs boson with the ATLAS detector, arXiv:2007.07830 [hep-ex] - CMS Collaboration: Measurement of Higgs boson decay to a pair of muons in proton-proton collisions at √s=13 TeV, CERN document server, CMS-PAS-HIG-19-006
- ATLAS-Experiment, CERN, Genf
- CMS-Experiment, CERN, Genf