29.03.2011

Sind die Physiker schuld an der Finanzkrise?

Physik Journal - Zehn Jahre „Physik sozio-ökonomischer Systeme“ in der DPG

Seit den 1990er-Jahren sind Physikerinnen und Physiker vermehrt in Banken, Versicherungen, im Fondsmanagement und in Unternehmensberatungen tätig – ein Trend, der weiterhin anhält und auch international zu beobachten ist. Sind sie qualifiziert für diese anspruchsvollen Aufgaben und kennen sie die Konsequenzen ihres Handelns? Oder werden ihre analytischen Fähigkeiten, ihr Talent zur Datenanalyse und zur Modellierung komplizierter Systeme überschätzt? Sind Physiker gar Schuld an der weltweiten Finanzkrise? Bei der Diskussion dieser Frage werden bevorzugt zwei Klischees verbreitet:

  • „Der unmoralische Physiker“ stellt sein Wissen und Können in den Dienst von eigennützigen Finanzinstitutionen, die letztlich die Welt ruinieren. So waren Physiker im Risikomanagement auch an der Entwicklung von CDS (Credit Default Swap) beteiligt, denen eine Hauptverantwortung für die Ausbreitung der Finanzkrise zugeschrieben wird. Nicht von ungefähr hat der Milliardär Warren Buffet diese als finanzielle Massenvernichtungswaffen bezeichnet.
  • Der „weltfremde Physiker“ hat sich seine wissenschaftlichen Meriten in Bereichen ohne jeden Praxisbezug erworben (gern angeführt: die Stringtheorie). Ohne relevante Erfahrung beschäftigt er sich nun auf einmal mit globalen Finanzgeschäften, die gravierende Auswirkungen in der realen Welt haben, was er in keiner Weise abschätzen kann. Stattdessen vertraut er völlig seinen idealisierten mathematischen Modellen und hält sie für die Wirklichkeit, er glaubt, mit einer Formel die ganze (Finanz-)Welt beschreiben zu können.

Es wäre falsch, diesen Thesen mit dem Bild des unschuldigen Physikers entgegenzutreten, der doch immer nur das Beste wollte. Aber es stellt sich die Frage, wie Physiker – durch ihre Ausbildung oder durch ihre Arbeitgeber – auf die Herausforderungen vorbereitet werden, die sich stellen, wenn sie nicht mit Kosmologie oder Nanostrukturen, sondern mit komplexen adaptiven ökonomischen Systemen zu tun haben.
Physiker sind sicher nicht die besseren Ökonomen – dieses Vorurteil ist noch genauso verbreitet wie die Skepsis gegenüber Physikern, die sich mit Ökonomie befassen. Aber sie können vermehrt ihre Stärken in der Modellierung und Analyse von Syste-men interagierender „Teilchen“ ins Spiel bringen, wenn sie dabei auch ökonomische Konzepte integrieren. Das setzt Wissen über ökonomische und soziale Zusammenhänge voraus, das in den Seminaren zur Sozio- oder Ökonophysik heute noch unzureichend vermittelt wird.

Meinung von Prof. Dr. Frank Schweitzer, ordentlicher Professor für Systemgestaltung an der ETH Zürich. Er war Initiator und Gründungsvorsitzender des heutigen Fachverbandes „Physik sozio-ökonomischer Systeme“ der DPG.

 

Die Investition in eine solche Ausbildung würde sich lohnen, für die Hochschulen wie für die Studierenden: Wer die ökonomische Wachstumstheorie kennt und weiß, wie eine Wertschöpfungskette funktioniert, ist auch besser gefeit davor, an den Reichtum aus dem Nichts zu glauben. Und wer eine Ausbildung in Systemdynamik erhält, lernt auch, systemische Risiken zu erkennen, die sich nicht an einzelnen Institutionen festmachen lassen, sondern aus der Wechselwirkung aller erst entstehen. Die Beziehung zwischen Mikro- und Makroebene, das Herzstück der statistischen Physik, ist auch für ökonomische und soziale Systeme von Bedeutung – aber nicht im Sinne eines simplen Physikalismus.

Um eine Wissenschaft wirklich zu verstehen, muss man auch ihre Grenzen kennen. Ökonomie ist ganz sicher nicht „the next physical science“, wie Kollegen aus USA es vor Jahren etwas provokativ formulierten. Es ist eine Wissenschaft mit eigenständigen Theoriegebäu-den, die es zunächst einmal zu respektieren gilt – auch wenn dabei unrealistische Vereinfachungen, falsche Annahmen und Glaubenssätze zutage treten, wie in anderen Disziplinen auch.

Physiker arbeiten seit Jahren daran, die konzeptionelle Krise der Ökonomie, die letztlich auch in der Finanzkrise zum Ausdruck kommt, durch neue Ansätze aufzulösen. Vor genau zehn Jahren hat die DPG den „Arbeitskreis Physik sozio-ökonomischer Systeme“ (AKSOE) gegründet. Die Skepsis war damals sehr groß und wurde auch in der entscheidenden Vorstandsratssitzung laut. Der Entschluss hat sich aber als richtig erwiesen: Aus dem AKSOE wurde ein eigenständiger Fachverband SOE mit rund 360 Mitgliedern und international sehr beachteten Konferenzen bei den Frühjahrstagungen. Symposien mit anderen Fachverbänden, etwa Dynamik und Statistische Physik oder Umweltphysik, zeigen, dass es auch fachverbandsübergreifende Themen gibt. Die sozio-ökomische Physik kann zudem Professuren und größere Projekte vorweisen.

Blickt man zurück auf die Schuldzuweisungen der Finanz-krise, dann hat die Geschichte auch etwas Positives: Man traut den Physikern offenbar nach wie vor eine Menge zu, und das selbst in Bereichen, die nicht zu ihrem Kerngeschäft zählen – bisher jedenfalls.

Frank Schweitzer

AH

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