Die Arbeit mit dem Radium
Beate Ceranski: Die Arbeit mit dem Radium, Springer, Berlin, Heidelberg 2024, geb.,
XV + 639 S., 74,99 Euro
ISBN 9783662676929
Beate Ceranski

Nur in seltenen Fällen entsteht ein neues naturwissenschaftliches Forschungsfeld und etabliert sich als solches innerhalb weniger Jahre – zweifellos zählt hierzu auch der Beginn der Forschung zu radioaktiven Zerfällen und ionisierender Strahlung, die sich in der Folge der Beschreibung Becquerels ergab.
Wie Beate Ceranski in ihrer umfangreichen Analyse überzeugend vorstellt, haben die Forschenden wesentliche Schritte zur Etablierung der wissenschaftlichen Disziplin in der Zeit zwischen 1896 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges vollzogen. Diese Analyse profitiert sehr davon, dass die Autorin nicht nur eine ausgesprochen kompetente Historikerin ist, sondern auch einen fundierten Hintergrund in der Physik hat. Mit diesen Kompetenzen gelingt es ihr, eine Reihe wesentlicher Entwicklungsstränge darzustellen. Hierbei beschränkt sie sich nicht auf die Entwicklung und Etablierung der Forschung in verschiedenen Bereichen wie der Physik und der Chemie, sondern berücksichtigt auch die Relevanz der Untersuchung von Heilquellen mit radioaktiven Inhaltsstoffen und der damit verbundenen Herausforderung der oftmals vor Ort zu erfolgenden Messungen. Gleichzeitig verdeutlicht sie, welche Prozesse der Aushandlung nötig waren, um experimentelle und konzeptionelle Standards zu etablieren, und wie hieraus wieder einzelne Forschende ein Renommee zogen, das hier als wissenschaftliches Kapital beschrieben wird.
Neben derartigen, vielleicht eher erwartbaren Themen gelingt es ihr auch, Arbeitszusammenhänge, Machtverhältnisse und soziale Organisation von Forschung aufzuzeigen und zu thematisieren. Auf spannende Weise wird deutlich, welche Faktoren bei der Etablierung eines wissenschaftlichen Feldes wie zum Tragen kommen – sei es die Einrichtung von Lehrstühlen (aber auch außeruniversitärer Forschungsinfrastruktur), die Etablierung zentraler Publikationsorgane oder die (auch) ökonomisch zu denkende Bereitstellung von Forschungsmaterial (im Wortsinn etwa in Form der Salze radioaktiver Elemente – hier etwa bei Ramsay und Rutherford). Aufschlussreich ist auch, dass gerade in der frühen Phase der „Arbeit mit dem Radium“ sowohl Kollaborations- als auch Konkurrenzverhältnisse die Entwicklung des Feldes beeinflussten. Hierbei sind nicht nur Fähigkeiten und Kompetenzen, die sich teilweise aus Vorarbeiten in zumindest zunächst verwandten Gebieten entwickelten, wesentlich für die Anerkennung. Sehr deutlich wird, dass auch soziale Faktoren durchaus ein Hemmnis sein konnten, etwa weil die forschende Person weiblich war oder als jüdisch wahrgenommen wurde und damit nur geringe Aussichten hatte, eine Professur zu erhalten.
Insgesamt ist dies ein Band, der nicht nur eine spannende Entwicklung in der naturwissenschaftlichen Forschung im Übergang in das 20. Jahrhundert darstellt, sondern auch aufzeigt, wie sich dies insgesamt in die Wissenschaftsgeschichtsschreibung einordnen lässt. Dies mag für einige Naturwissenschaftler:innen zunächst einmal ebenso befremdlich erscheinen wie die Terminologie, die dankenswerterweise ein Glossar klärt: Aus heutiger Sicht sind Begriffe wie Radiumemanationen oder Mesothorium irritierend. Gerade das führt aber auch die Schwierigkeit bei der Klärung und Strukturierung des Forschungsfeldes vor Augen. Insofern ist dieser Band für Leser:innen, die sich darauf einlassen, ein großer Gewinn und ein intellektuelles Vergnügen.
Prof. Dr. Peter Heering, Europa-Universität Flensburg