14.05.2014

Systematicity

Paul Hoyningen-Huene: Systematicity, Oxford University Press, Oxford 2013, 304 S., geb., 65 $, ISBN 9780199985050

Paul Hoyningen-Huene

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Paul Hoyningen-Huene, promovierter Physiker und Wissenschaftstheoretiker, möchte ergründen, was eigentlich Wissenschaft ausmacht. Ein ehrgeiziges Vorhaben, denn seit Kuhn, Feyerabend und anderen ist immer klarer geworden, dass es kein absolutes Kriterium für Wissenschaftlichkeit gibt (wie es noch Popper in seinem Falsifikationsprinzip zu finden geglaubt hatte).

Hoyningen-Huenes Hauptthese besteht darin, den Grad der Systematizität im Verhältnis zum Alltagsleben als entscheidenden Unterschied der Wissenschaft zu anderen Unternehmungen zu postulieren. Den eingestandenermaßen recht vagen Begriff der „Systematizität“ fächert Hoyningen-Huene in neun Dimensionen auf: Beschreibung, Erklärung, Vorhersage, Verteidigung von Wissensansprüchen, kritischer Diskurs, epistemische Vernetztheit, Ideal der Vollständigkeit, Vermehrung von Wissen, Strukturierung und Darstellung von Wissen. Die einzelnen Wissenschaften müssen nun nicht alle Dimensionen aufweisen, zudem sind diese selbst ganz unterschiedlich in einzelnen Fachgebieten ausgeprägt und verändern sich in der historischen Entwicklung. Zu den vielen Beispielen, die der Autor gibt, gehört der Formalismus in der Physik, der eine erfolgreiche Quantifizierung von Eigenschaften ermöglicht.

Für Hoyningen-Huene liegt das Verbindende in den Wissenschaften in der Verwendung von Wittgensteins Begriff der „Familien­ähnlichkeit“. So wie einzelne Familienmitglieder gemeinsame Eigenschaften haben (aber keine allen gemeinsame), so lassen sich auch zwischen Wissenschaften Ähnlichkeiten feststellen, ohne dass es eine trennscharfe Definition gibt. Damit ist für Abgrenzungsfragen die Dimension „epistemische Vernetztheit“ zentral. Erst der Grad der Einbindung in den Wissenschaftsprozess macht Unterschiede zu Feldern deutlich, die zwar hochsystematisch (wie Schach oder Astrologie), aber dennoch nicht in den kritischen wissenschaftlichen Diskurs integriert sind. Die Argumentation ist hier sicher noch ausbaufähig, wenn man etwa an die schwierige Grenze der ingenieurswissenschaftlichen zur rein anwendungsorientierten Forschung denkt.

Hoyningen-Huene zitiert Einstein („Die ganze Wissenschaft ist nur eine Verfeinerung des alltäglichen Denkens.“) und schlägt vor, Verfeinerung im Sinne von Systematisierung in seinem ausbuchstabierten Sinn zu verstehen. Allerdings ist bei vielen Wissenschaftsbereichen (z. B. Quanten­theorie, Kosmologie) eine Verbindung zum Alltagswissen kaum zu sehen. Trotz Hoyningen-Huenes Bemühen, die Alltagsferne solcher Theorien als Resultat eines notwendigen Systematisierungsprozesses (mit hoher Erklärungsdichte) deutlich zu machen, leuchtet dies nicht ganz ein.
Daher möchte ich für diese These ein zusätzliches Argument am Beispiel der Quantentheorie anführen: Bohr hat bekanntlich in seiner Komplementaritätstheorie den Begriff des „Phänomens“ entwickelt, der nicht nur das Quantenobjekt, sondern auch die Beobachtungssituation umfasst. Im Bereich des Beobachters, der etwa ein Mess­instrument abliest, hat – so Bohr – die klassische Physik zu gelten. Sie dient als eine Verfeinerung der Alltagssprache, ohne die sonst keine Ergebnisse kommunizierbar wären. Diese Überlegung stützt meines Erachtens stark die Hauptthese Hoyningen-Huenes auch für alltagsferne Felder wie die Mikrophysik.

Paul Hoyningen-Huene ist ein großer Wurf gelungen. Er hat es geschafft, eine an der tatsächlichen Wirkungsweise von Wissenschaften orientierte Charakterisierung von Wissenschaft zu entwickeln, die die überholten trennscharfen Definitionen vermeidet, ohne zu einem Relativismus zu kommen, der Wissenschaftlichkeit mit anderen Formen der Wissensproduktion oder der Ideologiebildung einfach gleichsetzt. Das könnte und sollte der Beginn eines fruchtbaren neuen Forschungsprogramms in der Wissenschaftstheorie werden.

Dr. Werner Eisner, Leibniz-Universität Hannover

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