09.03.2022

Aktivierte Glaskügelchen erklären Schwarmverhalten

Physiker entschlüsseln mit Mikrorobotern, wie Tierkollektive effektiv auf Gefahren reagieren.

Eine Herde Antilopen grast friedlich auf einer Wiese. Plötzlich taucht ein Löwe auf. Die Antilopen flüchten. Doch wie gelingt diese kollektive Flucht? Die Konstanzer Physiker Chun-Jen Chen und Clemens Bechinger, Mitglied am Exzellenz­cluster Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour der Universität Konstanz, fragten sich, wie Tiere sich verhalten müssen, um eine effi­ziente Flucht­bewegung einzuleiten. In einer Studie mit Mikro­robotern, die sich wie eine Tiergruppe bewegen, zeigen die Wissen­schaftler: Ein Tierschwarm führt – bezogen auf die ganze Gruppe – selbst dann eine optimale Flucht­bewegung durch, wenn einzelne Tiere die Gefahr nicht bemerken oder falsch reagieren. 

Abb.: Chun-Jen Chen erklärt an der Universität Konstanz Schwarm­verhalten...
Abb.: Chun-Jen Chen erklärt an der Universität Konstanz Schwarm­verhalten mit physikalischen Modellen. (Bild: E. Böker)

Als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen betrachteten die Wissenschaftler eine friedlich kreisende Gruppe, einen Wirbel. Dieser wurde einer plötzlichen Gefahren­situation ausgesetzt. Für ihre Experimente verwendeten die Forscher ein System von Mikro­robotern. Diese bestehen aus programmierbaren, aktiven, fein verteilten Glas­kügelchen, die auf einer Seite mit einer ultradünnen Kohlenstoff­kappe bedeckt sind. Werden diese mit einem fokussierten Laserstrahl beleuchtet, erwärmen sich die Teilchen einseitig und setzen sich, ähnlich wie Tiere, in Bewegung. „Wir sind in der Lage, jedes einzelne Teilchen individuell anzu­steuern und deren Bewegung an die der Nachbarn anzupassen“, erklärt Chen. „Die Teilchen unseres Schwarms sind so programmiert, dass sie Kollisionen grund­sätzlich aus dem Weg gehen sollen. Zudem erhielten die Teilchen die Information, dass sie sich ungefähr in Richtung des Gruppen­mittelpunktes bewegen. Mit diesen Interaktions­regeln gelingt es den Teilchen, sich in einem Wirbel zu organisieren.“ Bechinger ergänzt: „Der Schwarm aus Mikro­robotern gibt die Bewegungen eines echten Tierschwarms täuschend echt wider.“ 

Sobald ein Räuber auftaucht, verändern die Teilchen ihre Bewegungen, schildert Bechinger. Allerdings sei diese Bewegungs­änderung minimal und führe keineswegs dazu, dass sich jedes Teilchen zu jedem Zeitpunkt direkt vom Räuber entfernt. Bemerkenswert sei dabei, dass sich die Gruppe als Ganzes gerad­linig vom Räuber entfernt. „Dieses Kunststück, bei dem einzelne Individuen sich nicht ideal, die gesamte Gruppe aber dennoch optimal verhält, beruht auf einem kollektiven Entscheidungs­prozess, auch Schwarm­intelligenz genannt, bei dem ständig Informationen zwischen den Teilchen ausgetauscht werden“, sagt Bechinger. 

„Eine unmittelbare Konsequenz aus einem solchen Verhalten ist, dass die Flucht­effizienz nahezu unverändert bleibt, selbst wenn die Hälfte der Teilchen – also die Tiere – nicht auf die Bedrohung reagiert“, erklärt Chen. „Dies zeigt, dass unvollständige oder fehlende individuelle Informationen in Herden durch andere Gruppen­mitglieder kompensiert werden können.“ Möglicher­weise sei dies sogar einer der Gründe, warum sich Tiere in Herden organisieren, obwohl eine Herde für einen Räuber deutlich sichtbarer als ein vereinzeltes Tier ist, meinen die Physiker.

Neben einem besseren Verständnis, auf welcher Basis Entscheidungen in Herden von Tieren getroffen werden, sind die Ergebnisse auch für Anwendungen in dem Bereich der Mikro­robotik von Interesse. Aktuell werden verschiedene Szenarien diskutiert, bei denen eine Vielzahl von autonomen Robotern gemein­schaftlich sinnvolle Aufgabe erledigt und bei denen eine gestörte Kommuni­kation zwischen den Robotern zwangsläufig zu Problemen führe. Mit den aus dieser Studie gewonnen Erkennt­nissen würde ein Roboter­schwarm auch dann noch gut funktionieren, wenn etwa die Sensorik einzelner Roboter ausfallen würde, erläutert Bechinger. „Dieser würde von den anderen einfach kompensiert werden, was solchen Systemen eine große Robustheit verleihen würde.“

U. Konstanz / JOL

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