Aktivierte Glaskügelchen erklären Schwarmverhalten
Physiker entschlüsseln mit Mikrorobotern, wie Tierkollektive effektiv auf Gefahren reagieren.
Eine Herde Antilopen grast friedlich auf einer Wiese. Plötzlich taucht ein Löwe auf. Die Antilopen flüchten. Doch wie gelingt diese kollektive Flucht? Die Konstanzer Physiker Chun-Jen Chen und Clemens Bechinger, Mitglied am Exzellenzcluster Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour der Universität Konstanz, fragten sich, wie Tiere sich verhalten müssen, um eine effiziente Fluchtbewegung einzuleiten. In einer Studie mit Mikrorobotern, die sich wie eine Tiergruppe bewegen, zeigen die Wissenschaftler: Ein Tierschwarm führt – bezogen auf die ganze Gruppe – selbst dann eine optimale Fluchtbewegung durch, wenn einzelne Tiere die Gefahr nicht bemerken oder falsch reagieren.
Als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen betrachteten die Wissenschaftler eine friedlich kreisende Gruppe, einen Wirbel. Dieser wurde einer plötzlichen Gefahrensituation ausgesetzt. Für ihre Experimente verwendeten die Forscher ein System von Mikrorobotern. Diese bestehen aus programmierbaren, aktiven, fein verteilten Glaskügelchen, die auf einer Seite mit einer ultradünnen Kohlenstoffkappe bedeckt sind. Werden diese mit einem fokussierten Laserstrahl beleuchtet, erwärmen sich die Teilchen einseitig und setzen sich, ähnlich wie Tiere, in Bewegung. „Wir sind in der Lage, jedes einzelne Teilchen individuell anzusteuern und deren Bewegung an die der Nachbarn anzupassen“, erklärt Chen. „Die Teilchen unseres Schwarms sind so programmiert, dass sie Kollisionen grundsätzlich aus dem Weg gehen sollen. Zudem erhielten die Teilchen die Information, dass sie sich ungefähr in Richtung des Gruppenmittelpunktes bewegen. Mit diesen Interaktionsregeln gelingt es den Teilchen, sich in einem Wirbel zu organisieren.“ Bechinger ergänzt: „Der Schwarm aus Mikrorobotern gibt die Bewegungen eines echten Tierschwarms täuschend echt wider.“
Sobald ein Räuber auftaucht, verändern die Teilchen ihre Bewegungen, schildert Bechinger. Allerdings sei diese Bewegungsänderung minimal und führe keineswegs dazu, dass sich jedes Teilchen zu jedem Zeitpunkt direkt vom Räuber entfernt. Bemerkenswert sei dabei, dass sich die Gruppe als Ganzes geradlinig vom Räuber entfernt. „Dieses Kunststück, bei dem einzelne Individuen sich nicht ideal, die gesamte Gruppe aber dennoch optimal verhält, beruht auf einem kollektiven Entscheidungsprozess, auch Schwarmintelligenz genannt, bei dem ständig Informationen zwischen den Teilchen ausgetauscht werden“, sagt Bechinger.
„Eine unmittelbare Konsequenz aus einem solchen Verhalten ist, dass die Fluchteffizienz nahezu unverändert bleibt, selbst wenn die Hälfte der Teilchen – also die Tiere – nicht auf die Bedrohung reagiert“, erklärt Chen. „Dies zeigt, dass unvollständige oder fehlende individuelle Informationen in Herden durch andere Gruppenmitglieder kompensiert werden können.“ Möglicherweise sei dies sogar einer der Gründe, warum sich Tiere in Herden organisieren, obwohl eine Herde für einen Räuber deutlich sichtbarer als ein vereinzeltes Tier ist, meinen die Physiker.
Neben einem besseren Verständnis, auf welcher Basis Entscheidungen in Herden von Tieren getroffen werden, sind die Ergebnisse auch für Anwendungen in dem Bereich der Mikrorobotik von Interesse. Aktuell werden verschiedene Szenarien diskutiert, bei denen eine Vielzahl von autonomen Robotern gemeinschaftlich sinnvolle Aufgabe erledigt und bei denen eine gestörte Kommunikation zwischen den Robotern zwangsläufig zu Problemen führe. Mit den aus dieser Studie gewonnen Erkenntnissen würde ein Roboterschwarm auch dann noch gut funktionieren, wenn etwa die Sensorik einzelner Roboter ausfallen würde, erläutert Bechinger. „Dieser würde von den anderen einfach kompensiert werden, was solchen Systemen eine große Robustheit verleihen würde.“
U. Konstanz / JOL