An den Grenzen der Nuklidkarte
Wohl nicht einmal die Hälfte der gebundenen Atomkerne bei erforschten Ordnungszahlen sind bekannt.
Mehr als 3000 stabile oder radioaktive Nuklide sind heute bekannt. Allein 2011 konnten Forscher weltweit rund hundert neue Nuklide erstmals nachweisen. Ihre Gesamtzahl ließ sich bisher aber nicht gut bestimmen. Zu schwierig sind Erzeugung und Nachweis der weitab von den stabilen Nukliden liegenden, exotischen Atomkerne mit extremen Teilchenzahlen. Anhand theoretischer Modelle und Berechnungen mit Supercomputern haben amerikanische Forscher nun abschätzen können, dass bis zu einer Ordnungszahl von 120 ungefähr 6900 plusminus 500 gebundene Kernzustände existieren. Das schwerste künstlich erzeugte Nuklid hat eine Protonenzahl von 118 und einer Massenzahl von 294.
Abb.: Die mittleren Abbruchkanten für ein- und zwei-Proton- und -Neutronzerfall begrenzen die Anzahl möglicher gebundener Kernzustände. (Bild: Erler et al.)
Die Forscher verwendeten die nukleare Dichtefunktionaltheorie für ihre Analysen. Als wichtigste Zutat für ihre Berechnungen verwendeten sie Energiedichtefunktionale. Da diese nicht ab initio berechnet werden können, benutzten sie Optimierungen, die sie aus sorgfältig ausgewählten experimentellen Daten gewannen. Damit konnten sie die Grenzen ausloten, bei denen keine Kernbindung mehr zustande kommt. Das energetische Potenzial der Bindungszustände hängt hierbei stark davon ab, ob eine geradzahlige oder ungeradzahlige Protonen- und Neutronenzahlen vorliegt. Deshalb gibt es auch zwei Grenzlinien für Zerfälle mit einem bzw. zwei Protonen oder Neutronen.
Die Grenze für Protonenzerfälle ist dabei deutlich näher an den 256 stabilen Nukliden, da die starke elektromagnetische Abstoßung der vielen Protonen die Kerne schnell instabil werden lässt. Die neutronenreichen Nuklide wiederum sind sehr schwer nachzuweisen, da sie bei der Fragmentierung schwerer Kerne nur in geringer Menge produziert werden und dann noch separiert und identifiziert werden müssen.
Die Kenntnis der Grenzen der Nuklidkarte ist insbesondere für das astrophysikalische Verständnis für die chemische Elementsynthese in unserem Kosmos von Bedeutung. Die Prozesse des schnellen Protonen- und des schnellen Neutroneneinfangs, die für die Entstehung der schweren Elemente verantwortlich sind, geschehen nahe der Grenzen der Abbruchkanten. Deshalb besitzen auch sehr exotische und schwach gebundene Atomkerne Einfluss darauf, wie in Sternen und Supernovae schwere Elemente produziert werden. Die Forscher hoffen, aufbauend auf ihren jetzt publizierten Ergebnissen diese Prozesse besser verstehen zu können.
Dirk Eidemüller
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