Antiwasserstoff, Quantensimulation und Topologie
Jahresrückblick Atom-, Molekül-, Quanten- und Festkörperphysik 2016.
Haben Materie und Antimaterie dieselben physikalischen Eigenschaften? Oder sind geringfügige Unterschiede zwischen ihnen dafür verantwortlich, dass es im Universum praktisch keine Antimaterie gibt? Im zurückliegenden Jahr haben zwei Präzisionsexperimente am Forschungszentrum CERN gezeigt, dass diese Unterschiede sehr klein sein müssen, wenn es sie denn gibt. Die ASACUSA-Gruppe hat antiprotonisches Helium untersucht, bei dem ein Hüllenelektron des Heliumatoms durch ein Antiproton ersetzt wurde, das den Kern in großem Abstand umkreiste. Aus den Anregungsenergien dieses exotischen Atoms ergab sich, dass das Antiproton 1836,1526734 Mal so schwer ist wie das Elektron, was mit dem bekannten Verhältnis von Proton- zu Elektronmasse auf 10-8 übereinstimmt. Hingegen hat das Alpha-Experiment die sehr genau definierte Anregungsfrequenz des 1S-2S-Übergangs des Antiwasserstoffatoms mit hoher Präzision gemessen. Hier war die Übereinstimmung mit der entsprechenden Frequenz des Wasserstoffatoms sogar noch besser: der Unterschied war kleiner als 10-9. Im neuen Jahr soll die Antimaterie noch genauer unter die Lupe genommen werden.
Abb.: Aufbau des Alpha-2-Experiments. Antiprotonen und Positronen treffen und vereinigen sich in der Falle, die die entstehenden Antiwasserstoffatome mit elektrischen und magnetischen Feldern festhält. Ein Laserstrahl durchquert die Falle und regt die Antiatome an. (Bild: Alpha-2 / CERN)
Metrologische Spitzenleistungen
Eine ähnlich große oder sogar noch höhere Präzision wird in der Metrologie gefordert, die sich mit der Definition der physikalischen Basiseinheiten und ihrer praktischen Realisierung beschäftigt. Das neue internationalen Einheitensystem SI, dass im Herbst 2018 eingeführt wird, führt die Basiseinheiten auf exakt definierte Natur- und andere Konstanten zurück. Dabei müssen die entsprechenden Messverfahren auf 10-8 genau sein. Das Ampere war bisher eine Schwachstelle im Einheitensystem. Am französischen Metrologieinstitut LNE bei Paris hat man sie jetzt behoben. Man hat dazu einen neuartigen Stromgenerator entwickelt, der auf dem Quanten-Hall- und dem Josephson-Effekt beruht und Stromstärken von Mikro- oder Milliampere mit einer relativen Genauigkeit von 10-8 erzeugen kann.
Die Sekunde ist die am präzisesten definierte SI-Basiseinheit, da ihre Unsicherheit bei 10-15 liegt. Indem man von der Mikrowellenfrequenz der Cäsiumatomuhr, die der Sekunde zugrunde liegt, zur 100.000 Mal höheren Frequenz einer optischen Atomuhr übergeht, könnte man die Sekunde entsprechend genauer definieren. Hier gab es im letzten Jahr Fortschritte. So hat man an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt PTB in Braunschweig mit einer optischen Strontiumuhr bei Testläufen eine Genauigkeit von 10-16 erzielt, sodass die neue Atomuhr schon jetzt die besten Cäsiumuhren übertrifft und sich für eine Neudefinition der Sekunde eignet. Ebenfalls an der PTB hat eine optische Ytterbiumionenuhr eine Genauigkeit von 10-18 erreicht, die damit die weltweit genaueste Einzelionenuhr ist.
Abb.: Die optische Strontium-Gitteruhr (Bild: PTB)
Praktische Quanteninformation
Einzelne Atome und Ionen werden auch in der Quanteninformationsverarbeitung eingesetzt, als Datenspeicher oder als Teil eines Quantenprozessors. Hier hat es im letzten Jahr verstärkte Bemühungen gegeben, die Grenzen der praktischen Anwendung so weit wie möglich voranzutreiben. An der University of Maryland, College Park, wurde mit fünf Ytterbiumionen in einer Ionenfalle ein rudimentärer Quantencomputer bestückt, der flexibel programmierbar war und verschiedene wichtige Quantenalgorithmen ausführen konnte.
Mit fünf Kalziumionen arbeitet ein Quantencomputer von der Uni Innsbruck, der nach dem Shor-Algorithmus die Zahl 15 in Primfaktoren zerlegt hat. Und mit vier Kalziumionen wurden erste Simulationen einer Gittereichfeldtheorie durchgeführt. Am NIST in Boulder hat die Gruppe des Nobelpreisträgers Dave Wineland einen Quantensimulator aus 219 quantenmechanisch verschränkten Berylliumionen hergestellt, mit dem man die komplexen Quantenzustände von magnetischen Systemen untersuchen kann.
Abb.: Winzige Coulomb-Kristalle aus N Berylliumionen sind das Herzstück des neuen Quantensimulators. (Bild: J. G. Bohnet et al. / AAAS)
In der atomaren Quanteninformationsverarbeitung kommen neben Atomen und Ionen auch Photonen zum Einsatz. So haben Forscher am Technion in Haifa mit Quantenpunkten lange Folgen von Photonen erzeugt, deren Polarisationen verschränkt waren. Die Photonen befanden sich in einem Clusterzustand, der durch gezielte Messungen zum Einweg-Quantencomputing genutzt werden kann.
Fortgeschrittene Quantentechnologie
Aus den Gedankenexperimenten der Pioniere der Quantenphysik sind inzwischen Laborexperimente geworden, deren praktische Nutzbarkeit immer mehr in den Fokus kommt. Ein Beispiel ist Schrödingers Katze, die sich in einem nichtklassischen Überlagerungszustand befindet und gleichzeitig tot und lebendig ist. In solche nichtklassischen „Katzenzustände“ haben der Nobelpreisträger Serge Haroche und seine Kollegen am Laboratoire Kastler Brossel einzelne Rubidiumatome gebracht. Die Atome waren gleichzeitig in zwei verschiedenen Rydberg-Zuständen. In diesem Überlagerungszustand reagierten sie äußerst empfindlich auf Mikrowellenfelder, deren Stärke sich dadurch sehr genau bestimmen ließ.
In einem noch bizarreren Zustand haben Forscher von der Yale University ein Mikrowellenfeld präpariert. Es befand sich gleichzeitig in zwei verschiedenen Resonatoren und dort jeweils in zwei verschiedenen Zuständen. Es entsprach somit einer Schrödinger-Katze, die tot und lebendig und zudem an zwei Orten gleichzeitig ist. Diese weitreichende Kontrolle über Mikrowellenfelder eröffnet neue Möglichkeiten für die Quanteninformationsverabeitung.
Abb.: Hier erschien die Schrödinger-Katze an zwei Orten gleichzeitig: Der Aluminiumblock enthält die beiden Resonatoren („Alice“ und „Bob“), während das Transmon („Ancilla“), das sie koppelt und abfragt, in die vorgesehene Öffnung eingeführt wird. (Bild: C.Wang et al.)
„Schwache Messungen“, bei denen ein Quantenobjekt nur schwach mit dem Messgerät wechselwirkt und sein Zustand anschließend untersucht wird, haben sich von einer genialen Idee zu einem nützlich Werkzeug entwickelt. Mit diesem Verfahren wurde am Istituto Nationale die Ricerca Metrologica in Turin die Polarisation von Photonen untersucht. Dabei wurden gleichzeitig Informationen über komplementäre Zustände gewonnen, was mit normalen Messungen nicht möglich ist.
Auch mit quantenmechanisch verschränkten Atomen lässt sich die Genauigkeit von Messungen verbessern, wie Experimente an der Stanford University zeigen. Dabei haben die Forscher Rubidiumatome in einen verschränkten Quantenzustand gebracht und ihre durch Mikrowellen verursachten Zustandsänderungen mit zuvor unerreichter Genauigkeit bestimmt.
Coole Experimente
Auch die Experimente mit tiefgekühlten atomaren und molekularen Gasen haben im vergangenen Jahr wichtige Erkenntnisse und praktische Fortschritte gebracht. So hat man an der Universität Stuttgart aus magnetischen Dyprosiumatomen ein Bose-Einstein-Kondensat hergestellt, das sich wie die Quantenversion eines klassischen Ferrofluids verhielt. Wie dieses bildete es bizarre stachelige Strukturen und winzige Tröpfchen, die durch die Magnetisierung des Kondensats zusammengehalten wurden.
Abb.: Schattenrissaufnahme des Quanten-Ferrofluids im Experiment. Die kristallartige Anordnung der Tröpfchen ähnelt deutlich den regelmäßigen Spitzen im klassischen Ferrofluid (unten), die sich ausbilden, wenn ein Magnetfeld angelegt wird. (Bild: U. Stuttgart)
Mit ultrakalten magnetischen Atomen in Lichtgittern lässt sich untersuchen, wie in Kristallen magnetische Ordnung entsteht. An der Universität München hat man eindimensionale Magnete simuliert, wobei man die Einstellung der atomaren magnetischen Momente einzeln sichtbar machen konnte. Solch detaillierte Einblicke in ein Quantenvielteilchensystem sind mit klassischen Computern kaum zu gewinnen
Hinweise darauf, dass ultrakalte Rubidiumatome einen „suprasoliden“ Kristall bilden können, haben Experimente an der ETH Zürich ergeben. Die Atome saßen in einem Lichtgitter und konnten sowohl über kurze als auch über weite Entfernungen hinweg wechselwirken. Unter bestimmten Bedingungen ordneten sie sich zu einem Kristall und verhielten sich gleichzeitig wie eine Supraflüssigkeit.
Aus einem Bose-Einstein-Kondensat hat man am Technion in Haifa ein akustisches Schwarzes Loch hergestellt, bei dem Schallwellen die Rolle der Lichtwellen spielen. Das Kondensat gab Hawking-Strahlung in Form von Phononen ab, die mit anderen, im Loch gefangenen Phononen quantenmechanisch verschränkt waren. In ähnlicher Weise sollten die bei einem „echten“ Schwarzen Loch auftretenden Photonen verschränkt sein.
Auch bei der Herstellung und Kontrolle von ultrakalten Molekülen gab es Fortschritte. So hat man am MPI für Quantenoptik in Garching Formaldehyd-Moleküle mit einem neuen opto-elektrisches Verfahren, das die elektrische Polarität der Moleküle nutzt, schrittweise auf 420 Mikrokelvin abgekühlt. An den ungewöhnlich großen ultrakalten Molekülwolken lassen sich neue Erkenntnisse in der Chemie und der Molekülspektroskopie gewinnen.
Abb.: Nanoskalige Skyrmionen in ultradünnen Eisenfilmen von nur drei Atomlagen Dicke, aufgereiht auf Nanodatenspuren. Die Magnetisierung im Zentrum der vier Nanometer langen Skyrmionen (gelb) ist entgegengesetzt zu ihrer magnetischen Umgebung (blau) und zum äußeren angelegten Magnetfeld. Das Bild zeigt die Daten einer spinpolarisierten Rastertunnelmikroskopie-
Stark polare fermionische Natrium-Kalium-Moleküle hat man sogar schon auf Temperaturen unterhalb von einem Mikrokelvin gebracht. Dazu hat man zunächst Natrium- und Kaliumatome stark gekühlt und sie dann mit Hilfe einer Feshbach-Resonanz zu Molekülen verschmolzen. Forscher am MIT haben nun den Zustand von ultrakalten Na-Ka-Molekülen präzise kontrolliert und die Übergänge zwischen den untersten Rotationszuständen spektroskopisch untersucht. Damit rückt das Ziel in greifbare Nähe, mit polaren Molekülen Fermi-Entartung zu erreichen oder Bose-Einstein-Kondensate herzustellen.
Exotisch und topologisch
Topologische Aspekte spielen in der Physik der kondensierten Materie eine immer größere Rolle, wobei sich in ihrem Gefolge oft „exotische“ Anregungen und Quasiteilchen finden. Auch im vergangenen Jahr gab es dazu wieder viele interessante Experimente und Entdeckungen. So hat man an der finnischen Aalto Universität in supraflüssigem Helium-3 Quantenwirbel nachgewiesen, die den Lehrbüchern zu widersprechen scheinen. Sie tragen nur ein halbes Flussquant, sodass die Eindeutigkeit der Kondensatwellenfunktion nach einer vollen Drehung verletzt scheint. Sie wird indes dadurch gerettet, dass der Spin der Cooper-Paare, zu denen sich die Heliumatome zusammenschließen, eine entsprechend „exotische“ räumliche Verteilung hat.
Magnetische Skyrmionen sind Magnetisierungswirbel, deren topologische Struktur sie stabilisiert und vor dem Zerfall bewahrt. Physiker der Uni Hamburg haben solche Nanowirbel einzeln mit elektrischen Feldern erzeugt und wieder gelöscht. Forscher der Uni Mainz konnten zeigen, wie sich bei Raumtemperatur einzelne Skyrmionen in einem magnetischen Draht durch Strompulse kontrolliert bewegen lassen. Damit lassen sich mit magnetischen Skyrmionen Informationen bitweise sowohl speichern als auch transportieren. Ein am Forschungszentrum Jülich entwickelten Röntgenverfahren kann die magnetischen Skyrmionen schnell aufspüren. Damit lässt sich herausfinden, in welchen Substanzen diese nützlichen Wirbel überhaupt vorkommen.
Physik unter Hochdruck
Mit einer Diamantstempelzelle lassen sich kleine Materialproben unter extrem hohem Druck untersuchen. Dazu gab es im vergangenen Jahr an der Uni Bayreuth ein neuer Weltrekord. Es wurde erstmals ein Druck von 1000 Gigapascal (das 10-Millionenfache des Atmosphärendrucks) erreicht und sogar überschritten. Dazu haben die Forscher extrem harte, mikrometergroße Diamanthalbkugeln hergestellt und in einer Diamantstempelzelle aufeinander gepresst. Die Methode ermöglicht neue Experimente in der Physik, der Chemie und den Geowissenschaften.
Bei einem relativ „milden“ Druck von gut 325 Gigapascal scheinen Wasserstoffmoleküle in ihre atomaren Bestandteile zu zerfallen, sodass die lang gesuchte metallische Form von Wasserstoff entstehen könnte. Das legen Experimente an der University of Edinburgh nahe. Ein Nachweis der metallischen Leitfähigkeit steht aber noch aus.
Rainer Scharf
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