04.11.2010

Asymptotische Freiheit für die elektrische Ladung

Die Gravitation könnte bei der Vereinheitlichung der anderen Wechselwirkungen eine aktive Rolle spielen.

Die Gravitation könnte bei der Vereinheitlichung der anderen Wechselwirkungen eine aktive Rolle spielen.

Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die starke, die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung durch renormierbare Quantenfeldtheorien, die auch bei sehr kleinen Teilchenabständen (oder hohen Energien) handhabbar bleiben. Eine entsprechende Quantisierung der Gravitation führt hingegen zu einer nichtrenormierbaren Theorie, die mit kleiner werdendem Abstand immer komplizierter wird. Obwohl das Ziel einer renormierbaren Quantengravitationstheorie noch weit entfernt ist, möchte man gerne schon jetzt wissen, ob und wie die Gravitation die anderen Wechselwirkungen für sehr kleine Teilchenabstände modifiziert. Für die elektromagnetische Wechselwirkung hatte es widersprüchliche Resultate gegeben. Doch jetzt hat ein britischer Forscher die Widersprüche ausgeräumt und ein erstaunliches Ergebnis erhalten: Die Gravitation lässt elektrische Ladungen „verschwinden“, wenn deren Abstand gegen Null geht.

Bisher war man im Rahmen der Quantenelektrodynamik (QED) davon ausgegangen, dass die beobachtbaren elektrischen Ladungen zweier Teilchen mit abnehmendem Teilchenabstand immer größer werden. Das liegt daran, dass die nackten, unbeobachtbaren Teilchenladungen aufgrund der elektrischen Polarisierbarkeit des leeren Raumes teilweise abgeschirmt werden. Eine polarisierte Wolke aus virtuellen Elektron-Positron-Paaren umgibt die nackten Ladungen und schwächt dadurch ihre Wirkung ab. Kommen sich zwei Ladungen immer näher, so wird die Abschirmung immer schwächer und die beobachtbaren Ladungen immer größer.

Anders ist das bei der starken Wechselwirkung zwischen Quarks, die durch die Quantenchromodynamik (QCD) beschrieben wird. Zwar gibt es auch hier eine abschirmende Wirkung durch virtuelle Quark-Antiquark-Paare. Doch sie wird kompensiert durch die „anti-abschirmende“ Wirkung von virtuellen Gluonen. Da Gluonen, die Feldquanten der starken Wechselwirkung, einen Farbladungsdipol tragen, geben sie dem leeren Raum „paramagnetische“ Eigenschaften, sodass er die Wirkung der Farbladung der Quarks verstärkt. Dadurch nimmt die Anziehungskraft zwischen zwei Quarks mit ihrem Abstand zu, sodass einzelne Quarks nicht auftreten können. Wird der Abstand hingegen verringert, so nimmt die Ladung der Quarks und somit ihre Anziehungskraft auf 0 ab. Es tritt „asymptotische Freiheit“ auf, für deren Nachweis in der QCD David Gross, David Politzer und Frank Wilczek 2004 den Physik-Nobelpreis erhalten hatten.

Die drei Forscher hatten dazu untersucht, wie die variable Kopplung g, die ein Maß für die Stärke der Kraft zwischen zwei geladenen Teilchen ist, vom Abstand der Teilchen oder ihrer Energie E abhängt. Dazu stellten sie die Differentialgleichung Eg'(E) = β(E,g) auf und untersuchten das Verhalten von g(E) für E gegen Unendlich. Während im Fall der QED die β-Funktion positiv war und g stetig mit E zunahm, wurde bei der QCD die β-Funktion negativ, sodass g gegen 0 ging und damit asymptotische Freiheit auftrat.

Robinson und Wilczek hatten 2006 diese Berechnung für die QED wiederholt unter der Annahme, dass außer dem elektromagnetischen Feld der Ladungen auch noch ein Gravitationsfeld vorhanden ist. Dieses Feld beschrieben sie durch eine nichtrenormierbare Quantenfeldtheorie, die zwar für E gegen Unendlich wertlos wird, aber bis zu einer relativ hohen Energie Ec weit unterhalb der Planck-Energie Ep≈1019 GeV sinnvolle Ergebnisse liefert. Die beiden Forscher fanden, dass die β-Funktion im Gravitationsfeld negativ wurde. Allerdings erhielten andere Forscher davon abweichende Resultate, die zudem eine unerwünschte Abhängigkeit von der gewählten Eichbedingung hatten.

Abb.: Mit abnehmendem Abstand ändert sich die Kopplungsstärke der fundamentalen Wechselwirkungen. Nahe der Planck-Länge sollten sie sich zu einer universellen Wechsel-wirkung vereinigen. Doch neue Resultate zeigen, dass die Gravitation die anderen Naturkräfte schon weit unterhalb der Planck-Länge beeinflussen kann. (Bild: Giovanni Amelino-Camelia, Nature)

Nun hat David Toms von der Newcastle University die Berechnung der β-Funktion wiederholt, wobei er auf die gegen Robinson und Wilczek vorgebrachten Einwände detailliert eingegangen ist. Er erhält für die β-Funktion der QED im Gravitationsfeld ein eichinvariantes Ergebnis, das für hinreichend großes E negativ ist. Demnach ist β(E,q) = (q3/12π2) – (κ2q/32π2)(E2+3Λ/2), wobei die Elektronenladung q die variable QED-Kopplung und κ die Kopplungskonstante des Gravitationsfeldes ist, während Λ die kosmologische Konstante bezeichnet. Ohne Gravitation (κ=0) ist β(E,q) erwartungsgemäß positiv, sodass q mit E über alle Grenzen wächst. Mit Gravitation wird β(E,q) hingegen negativ, wenn Λ=0 ist oder einen Wert hat, der mit den astronomischen Beobachtungen im Einklang ist.

Die QED-Kopplung nimmt also stetig mit E ab, solange man unterhalb einer großen Energie Ec bleibt. Die beobachtbaren elektrischen Ladungen werden immer kleiner, je näher sie einander kommen. In diesem Sinne führt die Quantengravitation zur asymptotischen Freiheit für die QED. Was jenseits von Ec passiert, wenn sich die Energie der Planck-Energie nähert, kann nur mit Hilfe einer renormierbaren Quantengravitationstheorie berechnet werden. Doch die Resultate Toms eröffnen die Möglichkeit, dass die energieabhängigen Kopplungen der starken, schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkungen unter dem Einfluss der Gravitation schneller zu einem gemeinsamen Wert streben könnten, als ohne Gravitation. Vielleicht sieht man erste Hinweise auf die dabei auftretende Vereinheitlichung der Naturkräfte ja schon bei den Experimenten mit dem Large Hadron Collider.

RAINER SCHARF

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KK

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