Blick unter den Eisschild der Antarktis
Subglaziale Ströme der Westantarktis beeinflussen das Schmelzen des Eises.
Unter dem Eis der Antarktis liegt ein System von Seen und Wasserströmen verborgen. Zum ersten Mal hat ein Forschungsteam mit Forschenden der ETH Zürich die subglazialen Ströme der Westantarktis direkt beobachtet. Ihre Studie zeigt, wie einzelne Flutereignisse das Schmelzen des Eises beeinflussen. Dazu bohrten sie ein 500 Meter tiefes Loch durch die antarktische Eisschicht, bis sie auf Wasser stießen. Die Forschenden konnten den Wasserstrom unter dem Eis filmen und seine Eigenschaften analysieren.

Im Herbst 2021 brach ein internationales Forscherteam der „New Zealand's Antarctic Science Plattform“ zum Südpol auf. Ziel der Expedition war das Ross-Schelfeis in der Westantarktis, eine schwimmende Eisplatte, gut zehnmal so groß wie die Schweiz. An der Küste betreibt Neuseeland seit 1957 die Scott-Forschungsstation. Von dort drang das Expeditionsteam weiter südwärts vor. Zwei Wochen und 1200 Kilometer später erreichten sie ihr Ziel auf dem Eisstrom Kamb: Das ist ein 350 Kilometer langer, 100 Kilometer breiter und mehrere Hundert Meter tiefer Gletscher, der aus dem Inneren der Antarktis in Richtung Meer verläuft und an der Küste ins Ross-Schelfeis übergeht.
An dieser entlegenen Stelle auf dem ewigen Eis errichtete das Supportteam eine temporäre Forschungsstation mit eigener Landebahn und Zeltunterkünften. Für ihre Forschungsarbeit nutzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die günstigen Bedingungen des antarktischen Sommers und 24 Stunden Helligkeit pro Tag. Hier bohrten sie 500 Meter tief durch die Eisschicht bis zum antarktischen Festland, wo sie auf Wasser und Sedimentgestein trafen. Für die Heißwasser-Bohrung nutzten sie eine Hochdruckdüse. Mit dreißig Zentimetern Durchmesser war das Bohrloch groß genug, um eine Kamera und diverse Messgeräte in die Tiefe hinunterzulassen und die Verhältnisse am Fuss des Eisstroms zu erkunden.
„Am Ende des Bohrlochs stießen wir auf Wasser, und mit unserer Kamera entdeckten wir hier, 400 Kilometer vom offenen Meer entfernt, sogar einen Schwarm von Hummer-artigen Lebewesen“, berichtet Expeditionsleiter Huw Horgan, der seit zwei Jahren als Wissenschaftler an der ETH Zürich und an der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL arbeitet. Die Forschenden vermuteten zwar schon länger, dass unter dem Eisschild Wasser fließt. Das Wasser kommt dort aufgrund der Erdwärme und weiterer Faktoren vor. Forschende hatten auch schon mit Satelliten mehrere Hundert Seen unter den Eiskappen der West- und Ostantarktis entdeckt. Aber die Wasserströme in den Tiefen der Eiskappen geben noch viele Rätsel auf. Mit der Bohrung durch den Eisstrom Kamb ist es zum ersten Mal überhaupt gelungen, einen solchen Wasserstrom, der in einer Höhle unter dem Eis auf den Ozean trifft, direkt aus unmittelbarer Nähe zu beobachten.
Mit ihren Messgeräten analysierten die Forschenden die Eigenschaften des Wasserstroms, darunter Temperatur, Salzgehalt und Sedimentgehalt. Mit einem Echolot konnten sie den Querschnitt des wasserführenden Eiskanals auf etwa 100 mal 200 Metern abschätzen. Man darf sich den gletscherunterseitigen oder subglazialen Wasserstrom nicht als reißenden Fluss vorstellen. Es handelt sich vielmehr um ein vergleichsweise ruhendes Gewässer, und das meiste Wasser stammt aus dem Meer. Nur geringe Mengen – weniger als ein Kubikmeter pro Sekunde – sind Frischwasser, also Wasser, dass unterhalb des Kamb-Eisstroms in Richtung Meer nachströmt. „Diese Wassermenge ist viel kleiner als das, was uns die bestehenden Modelle vorhergesagt hatten“, sagt Huw Horgan.
Nicht minder wichtig ist ein zweites Ergebnis: der subglaziale Wasserstrom fließt nicht kontinuierlich, sondern sein Lauf schwankt mit der Zeit stark. „Wir vermuten, dass das Wasser aus flussaufwärts liegenden, subglazialen Seen stammt. Diese Seen füllen und entleeren sich in bestimmten Zyklen. Wenn sie sich entleeren, kommt, ergiesst sich eine Wasserflut in Richtung Meer“, sagt Horgan. Dass solche Flutereignisse tatsächlich vorkommen, wiesen die Forscher nach, indem sie Sedimentproben aus dem Boden unter dem Eisstrom auswerteten. Große Flutereignisse treten demnach etwa alle zehn Jahre auf. Daneben gibt es möglicherweise kleinere Flutereignisse, die die Forscher mit den bisherigen Messmethoden allerdings nicht nachweisen können.
Die Studie ist ein Baustein zu einem besseren Verständnis der Wasserströme unter dem antarktischen Eisschild. Sie leistet zugleich einen Beitrag, um die Folgen der Erderwärmung in den kommenden Jahrzehnten verlässlicher abschätzen zu können. Die Schmelzprozesse im antarktischen Schelfeis sind eine wichtige Ursache für das erwartete Ansteigen des Meeresspiegels. Das liegt daran, dass das Ross-Schelfeis und andere Schelfeis-Formationen wie eine Barriere wirken: Sie halten die Eisströme auf dem antarktischen Festland zurück und verhindern so, dass sie zum Meer wandern und dabei auch abschmelzen. „Die subglazialen Wasserströme spielen eine zentrale Rolle beim Abschmelzen des Schelfeises“, sagt Huw Horgan. „Unsere Erkenntnisse sind daher eine Voraussetzung für die Entwicklung neuer Modelle, die das Schmelzen des Schelfeises beschreiben und das Ansteigen des Meeresspiegels noch genauer vorhersagen können.“
ETHZ / JOL