20.06.2016

Der Priester mit dem großen Knall

Vor 50 Jahren starb der belgische Priester und Physiker Georges Lemaître, der die Grundlage für das Urknall-Modell gelegt hat.

Im Jahr 1933 feierte die Presse den belgischen Physiker und Priester Georges Lemaître noch als einen der weltweit bedeutendsten Kosmologen. Die New York Times brachte ein Foto, das ihn mit Einstein zeigte, und berichtete von ihrer gegenseitigen respektvollen Bewunderung. In den 1950er-Jahren geriet Lemaître jedoch in Vergessenheit, weil seine Meriten fälschlicherweise Edwin Hubble zugeschrieben wurden und Lemaître dies aus Bescheidenheit nicht aufgeklärte. Heute gilt er jedoch zu Recht als „Vater der Urknalltheorie“.

Geboren wird Georges Lemaître 1894 als Sohn eines wohlhabenden Textilfabrikanten im belgischen Charleroi. Nach einer jesuitischen Erziehung nimmt er 1911 ein Ingenieurstudium an der Katholischen Universität Löwen auf. 1914 meldet er sich als Freiwilliger zu den Truppen und kämpft in Flandern. Für seine Tapferkeit wird er ausgezeichnet und verlässt die Armee 1918 im Rang eines Adjutanten. Der Krieg hat ihn verändert: Er wechselt zu den Fächern Mathematik und Physik und setzt sich mit der Philosophie Thomas von Aquins auseinander. 1920 promoviert er mit Auszeichnung in Mathematik und tritt 1922 ins Priesterseminar ein, um im darauf folgenden Jahr zum Priester geweiht zu werden.

Mit einer Arbeit über die Physik Einsteins verdient sich der 28jährige ein Auslandsstipendium. Zunächst geht er zum Astronomen Arthur Eddington an der Universität Cambridge und wechselt 1924 an das amerikanische Massachusetts Institute of Technology. Dort beschäftigt er sich mit der Allgemeinen Relativitätstheorie und findet eine Lösung der Einsteinschen Feldgleichungen, die auf ein expandierendes Universum hindeuten. Wenig später sitzt der belgische Postdoc im Auditorium, als Edwin Hubble bei einem Treffen der National Academy of Science seine Beobachtungen zur Rotverschiebung ferner Galaxien vorstellt. Doch Hubble setzt sie nicht in Beziehung zu einem expandierenden Universum.

Lemaître schlägt als Erster die Brücke zwischen Theorie und Experiment. Anhand der gemessenen Rotverschiebungen von 42 Galaxien schließt er auf ein expandierendes Universum bzw. die Expansion des Raumes selbst, in dem sich die Galaxien wie Rosinen in einem aufgehenden Hefeteig voneinander entfernen. Doch als Lemaître 1927 seine zweite, physikalische Dissertation über das expandierende Universum publiziert, nimmt die Fachwelt davon kaum Notiz – nicht nur, weil sie auf Französisch erscheint. 

Georges Lemaître zwischen Robert Millikan und Albert Einstein am California...
Georges Lemaître zwischen Robert Millikan und Albert Einstein am California Institute of Technology in Pasadena am 10. Januar 1933. (Foto: Archives Lemaître)

Damals halten es die Astronomen noch für selbstverständlich, dass das Universum schon immer existiert hat. Auch Lemaître denkt bei seiner Publikation von 1927 noch nicht an die physikalisch unschöne Singularität, die der amerikanische Astrophysiker Fred Hoyle 1950 in einer Radiosendung scherzhaft-abschätzig als „Urknall“ bezeichnet. Am Rande des Solvay-Kongresses von 1927 nimmt Einstein den belgischen Kollegen beiseite und sagt ihm, seine Lösung sei zwar mathematisch korrekt, aber sein Verständnis der Physik abscheulich. Er macht ihn aber auch auf die bereits 1922 und 1924 publizierten Arbeiten des Russen Alexander Friedmann aufmerksam, der die Lösung für ein dynamisches Universum ebenfalls gefunden hat. Dem dänischen Wissenschaftshistoriker Helge Kragh zufolge hat Friedmann die physikalische Relevanz seiner Gleichungen aber nicht erkannt.

Als Hubble 1929 weitere Daten zur Rotverschiebung der Galaxien publiziert, beginnt Arthur Eddington, sich erneut für das Problem zu interessieren. Lemaître, inzwischen Professor an der heimischen Universität Löwen, schickt ihm einen Sonderdruck seiner Arbeit aus dem Jahr 1927, und wenig später stellt Eddington die brillante Arbeit seines ehemaligen Schülers nicht nur den Kollegen an der Royal Astronomical Society vor, sondern verfasst auch eine Notiz für Nature.

1931 erscheint Lemaîtres Arbeit schließlich in einer englischen Übersetzung in den „Monthly Notices of the Royal Astronomical Society“ – fatalerweise jedoch ohne seine Herleitung des heute als Hubble-Konstante bekannten Expansionskoeffizienten. Physikhistoriker klärten erst 2011, wie es zu dieser historisch folgenschweren Auslassung kam: Lemaître hat seine Arbeit selbst übersetzt und dabei diese Passage gestrichen, um stattdessen auf die bereits bekannten experimentellen Daten zu verweisen. Als er später bemerkt, dass man seine Entdeckung Hubble zuschreibt, verzichtet er darauf, seine Prioritätsansprüche geltend zu machen.

1931 beschreibt Lemaître in einem kurzen Brief an Nature erstmals seine Theorie des „Ur-Atoms“, „ein kosmisches Ei, das im Moment der Entstehung des Universums explodierte“. Diese Idee entsprang nicht – wie man annehmen mag – dem Schöpfungsgedanken seines christlichen Glaubens, sondern war durch die Quantentheorie inspiriert. 1933 veröffentlichte Lemaître seine Theorie in dem Buch „L'univers en expansion“. Auch Einstein konnte der Belgier nun für seine Urknalltheorie gewinnen: Als die beiden Physiker 1933 zusammen eine Vorlesungsreihe in Kalifornien gaben, sagte Einstein nach einem Seminarvortrag Lemaîtres: „Das ist die schönste und befriedigendste Erklärung für die Schöpfung, die ich je gehört habe.“

Gegen eine Vereinnahmung der Urknalltheorie als naturwissenschaftlichen Beweis für die Schöpfungsgeschichte durch Papst Pius XII im Jahr 1951 hat sich Lemaître erfolgreich gewehrt. Für ihn war der „Beginn“ des Universums ein physikalisches Konzept, der „Schöpfungsakt“ dagegen ein philosophisches Konzept. So hatte es bereits sein Vorbild Thomas von Aquin gesehen, der lehrte, die Schöpfung sei kein Akt innerhalb der Zeit. Thomas von Aquin hatte diese Konstruktion gebraucht, um nicht in Konflikt mit dem aristotelischen Weltbild zu geraten, in dem das Universum als schon immer existent angesehen wurde. Lemaître verwendete dieselbe Argumentation nun, um die Physik endgültig aus dem aristotelischen Weltbild zu befreien.

Lemaître erfährt im Jahr 1964 von der Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung durch Arno Penzias und Robert Wilson, welche die Vorstellung von einem Universum, das nach einem Urknall expandiert, untermauert. Doch zu dieser Zeit ist Lemaître schon sehr krank. Er stirbt schließlich am 20 Juni 1966 in Löwen.

Anne Hardy
 

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