Direkter Weg zum Millisekunden-Pulsar
Macht Akkretion von Masse und Drehimpuls massereiche Weiße Zwerge zu rasenden Neutronensternen?
Neutronensterne können sich extrem schnell um ihre eigene Achse drehen – der Rekordwert liegt bei 716 Umdrehungen pro Sekunde. Wenn dabei ein von ihnen ausgehendes Strahlungsbündel periodisch die Erde überstreicht, sind sie als Millisekunden-Pulsare (MSP) zu beobachten, was erstmals 1982 gelang. Bisher ging man davon aus, es handle sich dabei um ehemalige Röntgendoppelsterne. In diesen umkreisen sich ein Neutronenstern und ein ausgedehnter Partner. Bei der Akkretion von Materie überträgt dieser Drehimpuls auf den Neutronenstern, bis dieser die beobachteten hohen Drehraten erreicht. Wenn der Begleiter zum Weißen Zwerg geworden ist, hört die Übertragung auf und der Neutronenstern ist zu einem Millisekunden-Pulsar geworden. Die Umlaufbahnen solcher Doppelsternsysteme haben eine sehr geringe Exzentrizität, was auf die Massenübertragung zurückzuführen ist. Theoretische Berechnungen und Beobachtungen von Systemen in unterschiedlichen Stadien zwischen Röntgendoppelstern und Millisekunden-Pulsar haben dieses Modell vielfach bestätigt.
Abb.: Das 100-m-Radiotelekop des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie bei Bad Münstereifel-Effelsberg (Bild: Norbert Junkes, MPIfR)
Kürzlich wurden jedoch neue Pulsare wie PSR J1946+3417 entdeckt, die anscheinend nicht in das bisherige Bild passen. PSR J1946+3417 gehört zu den 14 Pulsaren, die erst kürzlich das 100-Meter-Radioteleskop bei Effelsberg entdeckt hat. Mit 315 Umdrehungen pro Sekunde ist er ein Millisekunden-Pulsar, aber die Exzentrizität seiner Umlaufbahn ist vier Größenordnungen höher als bei anderen Systemen mit vergleichbarer Umlaufperiode. Die Masse des Begleitsterns liegt bei 0,24 Sonnenmassen – vermutlich ist er ein Weißen Zwerg mit Heliumkern. Interessanterweise sind mit dem 305-Meter-Radioteleskop in Arecibo fast gleichzeitig zwei weitere Systeme mit ganz ähnlichen Parametern entdeckt worden.
Es wäre theoretisch möglich, dass diese Sternsysteme ihre Entwicklung als Dreifachsterne begonnen haben, die dynamisch instabil wurden, wie dies bei PSR J1903+0327 der Fall ist, dem ersten Millisekunden-Pulsar mit einer sehr exzentrischen Umlaufbahn. Ein solcher Prozess sollte allerdings zu einer großen Bandbreite von Umlaufperioden, Bahnexzentrizitäten und Begleitsternmassen führen, ganz im Gegensatz zu den drei neu gefundenen Systemen, die sich in allen Parametern sehr ähneln.
Die neue Hypothese der Bonner Astronomen Paulo Freire und Thomas Tauris besagt nun, dass sich der neue Typ MSP aus einem System aus zwei Weißen Zwergen bildet. Durch Akkretion übernimmt der größere Partner Masse und Drehimpuls, bis er bei einer sehr hohen Rotationsrate die Chandrasekhar-Massengrenze überschreitet. Der dann eigentlich unausweichliche Kollaps zu einem Neutronenstern wird aber zunächst verzögert, bis er nach Versiegen der Akkretion sozusagen nachgeholt wird. Bei diesem Prozess behält der sich bildende Neutronenstern seine hohe Rotationsrate bei, der Begleiter wird ein heliumreicher Weißer Zwerg in einem exzentrischen Orbit – genau wie bei den neuen MSP beobachtet.
Das Modell von Freire und Tauris erklärt die Bahnexzentrizität und Masse des Begleitsterns nicht nur qualitativ, sondern auch ihre absoluten Werte. „Ich war schon überrascht, als wir uns die von unserem Modell vorhergesagten Bahnperioden und Exzentrizitäten angesehen haben“, sagt Thomas Tauris, der in den Forschungsgruppen „Sternphysik" am Argelander-Institut für Astronomie und „Radioastronomische Fundamentalphysik“ am Max-Planck-Institut für Radioastronomie (MPIfR) mitarbeitet. „Sie stimmen exakt mit den Beobachtungen überein! Dadurch war mir klar, dass wir auf einer interessanten Spur sind, obwohl es noch eine Stichprobe mit sehr wenigen Daten darstellt.“
Abb.: Spätstufen der Entwicklung von engen Doppelsternsystemen nach dem neuen hier beschriebenen Szenario (Bild: P. Freire & Th. Tauris)
Die neue Theorie basiert auf umfangreichen Computermodellen, die unter Tauris’ Leitung gerechnet wurden. Sie sagen für diese Art von Doppelsternsystemen Umlaufperioden zwischen zehn und sechzig Tagen voraus, jedoch konzentriert auf den mittleren Bereich dazwischen. Und dies stimmt exakt mit den beobachteten Werten der drei neuen Systeme überein. „Unser neuer Ansatz ist sehr elegant", sagt Freire, der ebenfalls am MPIfR forscht. „Aber ob die Natur in der Tat Millisekunden-Pulsare auf diese Art erzeugt, wissen wir damit natürlich noch nicht.“
In den nächsten Jahren wird das Pulsar-Team in der Forschungsgruppe „Radioastronomische Fundamentalphysik“ am MPIfR in der Lage sein, die Vorhersagen des hier vorgestellten Szenarios weiter zu überprüfen, speziell über optische Nachfolgebeobachtungen und präzise Massenbestimmungen von Pulsar und Begleitstern. Sie werden ebenso versuchen, weitere Systeme dieser Art mit dem Radioteleskop Effelsberg aufzuspüren. „Das Schöne dabei ist, dass wir bei der Bestätigung unserer Theorie einiges über Impuls- und Massenverlust in Verbindung mit solchen Supernovae lernen können, die erst durch Massenübertragung ausgelöst werden, oder auch über das Innere von Neutronensternen. Es könnte einen sehr wichtigen Puzzlestein für unser Verständnis von diesen Vorgängen darstellen“, schließt Freire.
MPIfR / MD