Dynamik von Vielteilchensystemen neu beschrieben
Powerfunktionaltheorie erweitert die klassische Dichtefunktionaltheorie.
Physikerinnen und Physiker der Universität Bayreuth zählen international zu den Pionieren der Powerfunktionaltheorie. Durch diesen neuen Ansatz wird es erstmals möglich, die Dynamik von Vielteilchensystemen im Zeitverlauf präzise zu beschreiben. Bei den Teilchen kann es sich um Atome, Moleküle oder größere für den Menschen unsichtbare Teilchen handeln. Die neue Theorie verallgemeinert die klassische Dichtefunktionaltheorie, die nur für Vielteilchensysteme im thermischen Gleichgewicht gilt.
Ein Vielteilchensystem befindet sich im thermischen Gleichgewicht, wenn die Temperatur in seinem Inneren ausgeglichen ist und keine Wärmeflüsse stattfinden. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass sich das System in einem starren Ruhezustand befindet. Manche Vielteilchensysteme lassen sich auch mit einer Lottotrommel vergleichen, die mit konstanter Geschwindigkeit rotiert. Die Kugeln haben darin viel Bewegungsfreiheit und springen ungeordnet hin- und her. In einem flüssigen Vielteilchensystem sind die Teilchen erheblich dichter als in der Trommel gepackt, weshalb sie in kurzen Entfernungen und Zeitabständen ständig aneinanderstoßen. Wesentliche Eigenschaften solcher Systeme lassen sich mit der Dichtefunktionaltheorie lückenlos und präzise beschreiben – vorausgesetzt, ein thermisches Gleichgewicht des Systems ist gegeben.
Im Fall der Lottotrommel geht dieses Gleichgewicht verloren, sobald sich die gleichmäßige Rotation allmählich verlangsamt und die Trommel den Rückwärtsgang einlegt. Dann rollen die Kugeln mit den Gewinnzahlen auf eine Schiene im Inneren der Trommel und werden schließlich ausgeworfen. Um solche Prozesse exakt und lückenlos erfassen zu können, bedarf es der Powerfunktionaltheorie: Sie übersetzt das Glück der Gewinnerinnen in die Sprache der Physik.
„Die klassische Dichtefunktionaltheorie ist eine sehr in die Tiefe gehende und zugleich ästhetisch ansprechende Theorie. Sie ist in der Lage, die oftmals sehr komplexen Prozesse zu beschreiben und aufeinander zu beziehen, die sich in einem System während seines thermischen Gleichgewichts abspielen. Dazu zählen beispielsweise Phasenübergänge, Kristallisationen oder auch Phänomene wie die Hydrophobie, die immer dann vorliegt, wenn bestimmte Teilchen den Kontakt mit Wasser meiden. Häufig sind solche Prozesse von großer technologischer oder biologischer Relevanz. Die Eleganz und Leistungsfähigkeit der Dichtefunktionaltheorie hat uns in Bayreuth seit zehn Jahren angespornt, nach Wegen zu suchen, um Vielteilchensysteme im thermischen Ungleichgewicht einer ebenso präzisen und eleganten physikalischen Beschreibung zugänglich zu machen. Forschungspartner an der Universität Fribourg in der Schweiz haben sich mit wichtigen Studien an dieser Suche beteiligt. So ist aus unseren gemeinsamen Anstrengungen die Powerfunktionaltheorie hervorgegangen, mit der die Dichtefunktionaltheorie auf zeitabhängige Prozesse ausgeweitet wird“, berichtet Matthias Schmidt von der Universität Bayreuth.
In der nun präsentierten Powerfunktionaltheorie (PFT) sind Forschungsarbeiten eingeflossen, die vor allem in zwei Profilfeldern der Universität Bayreuth angesiedelt waren: die nichtlineare Dynamik und die Polymer- und Kolloidforschung. Das Forschungszentrum für Wissenschaftliches Rechnen an der Universität Bayreuth hat viele dieser Studien wesentlich unterstützt und gefördert. Darin wurde die im Jahr 2013 erstmals vorgeschlagene Powerfunktionaltheorie getestet, weiterentwickelt und auf konkrete physikalische Probleme angewendet. Die Untersuchungen befassten sich unter anderem mit aktiven Teilchen, die sich aus eigenem Antrieb fortbewegen können, mit Scher- und Fließphänomenen in Kolloiden und Flüssigkeiten oder mit der mikroskopischen Struktur von Flüssigkeiten.
Entscheidend für die erfolgreiche Entwicklung der PFT war, dass auf diese Weise die in Vielkörpersystemen wirkenden Kräfte und ihre Zusammenhänge mit beobachtbaren Phänomenen überzeugend hergeleitet werden können. Hierbei erwiesen sich Methoden der Computersimulation und Anwendungen der statistischen Mechanik oft als unentbehrlich.
U. Bayreuth / JOL