Ein neues Teilchen!
Die Kollaborationen am Large Hadron Collider des CERN in Genf verkünden die Entdeckung eines Teilchens, bei dem es sich um das Higgs-Boson handeln könnte.
Selten wurden vorläufige Forschungsergebnisse so heiß erwartet. Kein Wunder, denn schließlich geht es um den letzten fehlenden Baustein des Standardmodells der Teilchenphysik. Und tatsächlich hatten die Sprecherin bzw. der Sprecher der beiden internationalen Forscherteams der Teilchenphysik-Experimente ATLAS und CMS eine klare und spektakuläre Botschaft: Beide Experimente haben ein neues Teilchen, ein Boson, mit einer Masse von rund 126 Giga-Elektronenvolt entdeckt. Ob es sich dabei allerdings um das Higgs-Boson handelt, dem letzten fehlenden Baustein des Standardmodells, lässt sich noch nicht beantworten.
Die Fortschritte seit dem letzten öffentlichen CERN-Seminar zum Stand der Higgs-Suche im Dezember 2011 sind beachtlich. Neue Daten und aufwändige Analysen haben innerhalb eines halben Jahres drastisch die Wahrscheinlichkeit dafür verringert, dass es sich nur um eine statistische Fluktuation des Untergrunds handelt, und zwar von 5 % auf ein Millionstel. Das liegt nun im Bereich von fünf Standardabweichungen (5 σ), ab der man von einer Entdeckung spricht. „Am deutlichsten überzeugt mich, dass wir in den zwei unabhängigen Datensätzen aus dem letzten und aus diesem Jahr das gleiche Signal sehen, und das konsistent in beiden Experimenten, ATLAS und CMS“, betont der Forschungsdirektor des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY, Joachim Mnich. Die Energie der Protonenstrahlen am LHC ist von 7 TeV Ende 2011 auf nun 8 TeV gestiegen.
Das Standardmodell sagt alle Eigenschaften des Higgs-Boson voraus - außer der Masse. Daher gilt es nun, die Eigenschaften des neuen Teilchens zu vermessen und dazu sind wesentlich mehr Daten notwendig. Bisher am aussagekräftigsten war die Analyse der Zerfälle in zwei Photonen oder vier Leptonen (Elektronen oder Myonen). Dies sind jedoch längst nicht alle möglichen Kanäle, über die das Higgs zerfallen kann und die seine Identifizierung ermöglichen. Bislang lässt sich auch nicht ausschließen, dass das neue Teilchen das leichteste von gleich mehreren Higgs-Bosonen ist, die supersymmetrische Theorien vorhersagen - damit wäre das Tor geöffnet zur Physik jenseits des Standardmodells. Damit die Experimenten möglichst viele Daten nehmen können, soll der LHC nun drei Monate länger laufen als ursprünglich geplant, bevor er fast zwei Jahre lang für Umbauten und Wartung abgeschaltet wird. Bis zur Pause wird sich die Datenmenge zwar verdoppeln, es scheint aber eher unwahrscheinlich zu sein, dass sich das neue Teilchen bis dahin eindeutig identifizieren lässt.
„Als Laie würde ich sagen, wir haben das Higgs“, sagte CERN-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer am Schluss des Seminars, „aber als Wissenschaftler müssen wir erst die Eigenschaften des Teilchens kennen, um das wirklich zu bestätigen." Bis dahin lässt sich die zentrale Botschaft des heutigen CERN-Seminars nur zusammenfassen mit: „Wir haben etwas entdeckt.“ Das klingt banal, aber die Forscher am CERN könnten sich in einer ähnlichen Situation wie Christoph Colombus befinden. Am Horizont scheint das das so lange gesuchte Higgs-Bosons aufzutauchen, doch genauso gut könnten die Teilchenphysiker außerhalb des Standardmodells der Teilchenphysik gelandet sein.
Alexander Pawlak
Weitere Infos
- LHC-Webseite beim CERN
- Ergebnisse von ATLAS (Internet Archive)
- Ergebnisse von CMS (Internet Archive)
- Tevatron New Phenomena & Higgs Working Group - Preliminary Results (Juni 2012)
- Higgs - immer noch mehr als nix (Physik Journal News, 13. Dezember 2011)
- Physik Journal Dossier: Large Hadron Collider
- „Licht ins dunkle Universum bringen" – Interview mit Rolf-Dieter Heuer, Physik Journal, Oktober 2008, S. 20 PDF