Elektronen schwingen weiter als gedacht
Forscher des Max-Born-Instituts in Berlin haben in Echtzeit die räumliche Schwingungsbewegung von Elektronen in einem Kristall verfolgt, in dem sie die Teilchen mit ultrakurzen Röntgen-Blitzen „filmten“.
Ein Kristall besteht aus einer regelmäßigen Anordnung von Atomen im Raum, auch Kristallgitter genannt, welches mit Hilfe der gegenseitigen, elektrostatischen Anziehungskräfte der Elektronenwolken benachbarter Atome zusammen gehalten wird. Die meisten der Elektronen sind stark an einen individuellen, positiv geladenen Atomkern gebunden. Die äußersten Elektronen eines Atoms heißen Valenzelektronen und bauen die Bindung zu den Nachbaratomen auf. Diese Bindungen bestimmen den Atomabstand im Kristall sowie wesentliche Eigenschaften, wie etwa seine elektrische Leitfähigkeit oder mechanische Stabilität.
Abb.: (A) Einheitszelle des KDP-Kristalls (gelbe Kugeln: Phosphoratome, rosa: Kalium, rot: Sauerstoff, weiß: Wasserstoff). (B) Elektronendichte-„Landkarte“ in dem eingezeichneten Rechteck vor der Laseranregung. Die schwarzen Linien deuten die Schachteln für verschiedene Atome an, in denen die Ladungsmenge und der Schwerpunkt der Ladungswolke gemessen werden. (C) und (D) Änderung der Ladungsdichte nach Laseranregung (rot: Ladungszunahme, blau: Abnahme). (E) Positionen der Atome in dieser Ebene und der Ladungsaustausch zwischen Phosphor und Sauerstoff. Die Elektronenwolke des Kaliumatoms zeigt Verzerrungen zwischen einer Zigarren- bzw. Pfannkuchen-Form. (Bild: MBI)
Die Atome in einem Kristallgitter sind nicht etwa in Ruhe, sondern schwingen um ihre jeweilige Gleichgewichtsposition. Die räumliche Auslenkung der Bewegung der Atomkerne zusammen mit ihren Elektronen in den inneren Schalen beträgt typischerweise nur ein Prozent des Abstandes zwischen den Atomen. Wie sich die äußeren Valenzelektronen während dieser Gitterschwingung verhalten, war bislang nicht klar und die Größe ihrer Auslenkung gänzlich unbekannt. Eine direkte Messung dieser Bewegung in Echtzeit ist sehr wichtig für ein grundlegendes Verständnis der statischen und dynamischen elektrischen Eigenschaften des Kristalls.
Um diese Frage zu klären, haben Forscher des Max-Born-Instituts in Berlin um Thomas Elsässer ein Röntgen-Reaktionsmikroskop gebaut, das eine Aufnahme der Elektronenbewegung in einem Kristall in Echtzeit erlaubt. Wie sie berichten, werden Gitterschwingungen in einem Kaliumdihydrogenphosphat (KDP)-Kristall mit Hilfe eines Laserblitzes angestoßen, der nur 50 Femtosekunden dauert. Die aktuellen Positionen der Atome und Elektronen werden dabei mit hoher räumlicher Auflösung mithilfe von 100 Femtosekunden langen Röntgenblitzen gemessen, welche von den schwingenden Atomen gebeugt werden. Röntgenaufnahmen, die zu verschiedenen Zeiten nach dem Start der Schwingung geschossen werden, bilden zusammengesetzt den gewünschten Röntgenfilm.
Es war eine große Überraschung für die Forscher aus Berlin, dass nach Anregung einer speziellen Schwingung in KDP – der „weichen“ Schwingung (engl. soft mode) – die äußeren Valenzelektronen um eine 30 Mal größere Entfernung ausgelenkt wurden als die Atomkerne und deren Elektronen in den inneren Schalen. Dieses Verhalten kann man direkt in den Elektronendichte-„Landkarten“ (Abb.:) beobachten. Während der soft-mode-Oszillation bewegt sich ein ursprünglich auf dem Phosphor (P)-Atom sitzendes Elektron zu einem seiner Sauerstoff (O)-Nachbarn (P-O Bindungslänge: 160 Pikometer) und kehrt nach einer halben Oszillationsperiode wieder zum P-Atom zurück. Überraschenderweise bewegen sich dabei die beteiligten Atome nur wenige Pikometer, im Gegensatz zum Lehrbuchwissen, nach dem man eine gemeinsame Bewegung aller Elektronen eines Atoms mit seinem Kern erwartet.
Die überraschend weite Bewegung der Valenzelektronen kann man mit Hilfe der elektrostatischen Kräfte verstehen, die das schwingende Ionenkristallgitter während der soft-mode-Oszillation auf die Elektronen ausübt. In den 1960er Jahren wurden schon Theorien entwickelt, die ein solches Verhalten vorhersagten. Jetzt ist endlich der experimentelle Nachweis gelungen.
Die neu entwickelte Pulvermethode der Femtosekunden-Röntgenbeugung kann auf viele andere Systeme angewendet werden, um ultraschnelle chemische und physikalische Strukturänderungen abzubilden, so die Forscher.
MBI / PH