Erdbeben in Istanbul überfällig
Geophysiker erwarten ein Starkbeben der Magnitude 7 in der Region des Marmara-Meeres.
Istanbul bereitet Erdbebenforschern große Sorge. Die 15-Millionen-Metropole liegt sehr nahe an der Nordanatolischen Verwerfungszone, die vor den Toren der Stadt unterhalb des Marmara-Meeres verläuft. Dort staut sich Energie im Untergrund, weil sich Erdplatten ineinander verhaken und die Bewegung aufgehalten wird – so lange, bis ein großes Beben diese Energie freisetzt. Für die kommenden Jahre rechnet die Wissenschaft mit einem Beben der Magnitude 7 oder größer in dieser Region.
Abb.: Marmara-Region im Nordwesten der Türkei: Unterhalb des Marmara-Meeres verläuft die Nordanatolische Störungszone, entlang derer ein Erdbeben der Magnitude 7 oder stärker überfällig ist. (Bild: C. Wollin, GFZ)
Entscheidend für die seismische Gefährdung der türkischen Großstadt wird sein, wie stark die Platten verhakt sind und wo genau das Erdbeben seinen Ursprungsort haben wird. Ein Team um Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum GFZ geht davon aus, dass das nächste große Beben eher im östlichen Marmara-Meer von Istanbul beginnen wird. „Das bedeutet eine gute und eine schlechte Nachricht für die Millionenstadt“, sagt Bohnhoff. Die Gute: „ Die Bruchausbreitung wird dann in östlicher Richtung verlaufen, also weg von Istanbul“, erläutert der Forscher. „Die schlechte Nachricht ist, dass es nur eine kurze Frühwarnzeit von wenigen Sekunden Dauer geben wird.“ Frühwarnzeiten sind wichtig, um etwa Ampeln auf Rot zu schalten, Tunnels und Brücken zu sperren oder kritische Infrastruktur abzuschalten.
Die Einschätzung des Teams um Bohnhoff beruht auf der Analyse zahlreicher kleiner Beben entlang der Marmara-Störung. Demnach ist der Grad der Verhakung im westlichen Teil der Bruchzone geringer und die zwei Erdkrustenplatten kriechen dort partiell ganz langsam aneinander vorbei. Dabei kommt es dann immer wieder zu kleinen Erdstößen gleicher Signatur. Weiter östlich vor Istanbul hingegen werden keine dieser Repeater beobachtet und die Platten scheinen dort komplett verhakt zu sein. Die tektonische Energie staut sich also auf. Die Gefahr, dass es ein großes Erdbeben gibt, nimmt zu.
Möglich gemacht hat diese Beobachtung ein neuer hochpräziser Seismizitätskatalog für die Region. Die Forscher haben dazu die Bebentätigkeit minutiös ausgewertet, indem sie erstmals die beiden großen türkischen Erdbeben-Messnetze und Messdaten aus dem GFZ-Plattenrandobservatorium als deutsch-türkisches Kooperationsprojekt miteinander kombinierten. „Auf diese Weise haben wir wiederkehrende Erdbeben unterhalb des westlichen Marmarameeres gefunden“, sagt Bohnhoff. „Daraus leiten wir ab, dass die beiden Platten dort zu einem beträchtlichen Teil – 25 bis 75 Prozent – aneinander vorbeikriechen, also weniger Energie akkumulieren, als wenn sie komplett verhakt wären.“
Und was wäre, wenn es doch unterhalb des westlichen Marmarameeres zu dem befürchteten starken Beben käme? „Auch da gäbe es eine gute und eine schlechte Nachricht“, sagt Bohnhoff. Gut wäre eine etwas längere Frühwarnzeit, schlecht wäre der Umstand, dass die Bruchausbreitung dann in Richtung Istanbul erfolgen würde und es dort zu schwereren Erschütterungen kommen würde als wenn der Bruchbeginn weiter östlich läge. Die derzeitige Datenlage jedoch lässt das Gegenteil vermuten: ein Beben mit einem Epizentrum vor den Toren der Stadt, das den Menschen zwar nur wenig Zeit lässt, sich zu schützen, das dafür aber weniger starke Bodenbewegungen auslöst.
GFZ / JOL