Erdbeben in Superzeitlupe
Deformation der Erdkruste nahe Istanbul zog sich über mehr als fünfzig Tage hin.
Südlich von Istanbul ist es im Sommer 2016 zu einem großen Erdbeben gekommen, das allerdings so langsam vonstatten ging, dass niemand es bemerkte. Die Deformation in der Erdkruste zog sich über mehr als fünfzig Tage hin, bei normalen Erdbeben passiert dies innerhalb von Sekunden. Erst eine neu entwickelte Methode zur Auswertung von Daten aus Deformationsmessgeräten in Bohrlöchern durch Forschende des Deutschen Geoforschungszentrums GFZ in Zusammenarbeit mit dem Türkischen Katastrophenschutz (AFAD) und dem UNAVCO-Institut aus den USA zeigte das ultra-langsame Beben unterhalb des Marmarameeres. Das Team wurden von Patricia Martínez-Garzón aus der GFZ-Sektion „Geomechanik und wissenschaftliches Bohren“ geleitet.
Das Untersuchungsgebiet liegt in der Nordwest-Türkei an der nordanatolischen Verwerfung. Diese geologische Bruchzone trennt Eurasien und die Anatolische Platte und ist eine der großen tektonischen Plattengrenzen, an der es immer wieder zu zerstörerischen Erdbeben mit einer großen Anzahl von Opfern kommt. Das letzte schwere Erdbeben ereignete sich 1999 bei Izmit und forderte fast 20.000 Tote. Ein Teil der Verwerfung, die unmittelbar südlich der dicht besiedelten Megacity Istanbul verläuft, wird derzeit als „seismische Lücke“ identifiziert und ist damit für ein großes Erdbeben überfällig.
Die tektonische Belastung durch die Bewegung der Erdkrustenplatten ist kontinuierlich. Das baut gewissermaßen täglich elastische Energie entlang von Verwerfungen auf. Die Freisetzung der gespeicherten Energie erfolgt entweder seismisch – in Form von Erdbeben – oder aseismisch, durch langsames Verformungskriechen in der Tiefe. Das Verständnis der Wechselwirkung zwischen beiden Phänomenen ist von entscheidender Bedeutung, um die Erdbebengefährdung und das daraus resultierende seismische Risiko in städtischen Gebieten zu bestimmen. In ihrer aktuellen Studie berichten die Wissenschaftler über ein sich über fast zwei onate hinziehendes, extrem langsames Erdbeben, das südlich von Istanbul unterhalb des Marmarameeres in Verbindung mit erhöhter schwach spürbarer Erdbebenaktivität in geringer Tiefe in der Region auftrat. Die Forschenden untersuchten die Krustenverformungsdaten aus Instrumenten in Bohrlöchern, die im Rahmen des GONAF Plate Boundary Observatory rund um das östliche Marmarameer installiert sind.
Die Daten einer der Bohrloch-Messstationen im seismisch aktivsten Teil des Gebietes auf der Armutlu-Halbinsel wurden mit neuartigen Computertechniken verarbeitet. „Dadurch konnte das langsame Kriechsignal identifiziert werden, das innerhalb der Erdkruste auftrat und die gleiche Größe hat wie das größte jemals gesehene derartige Signal, das entlang der San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien auftrat", sagt Martínez-Garzón. Während dieses aseismischen langsamen Verformungssignals reagierte der flachere und vermutlich vollständig verhakte Teil der Erdkruste mit der höchsten Rate von moderaten Erdbeben seit Jahren. Das weist auf eine Wechselwirkung zwischen oberflächennaher und tiefer Deformation der Erdkruste hin. Marco Bohnhoff, Leiter des GONAF-Observatoriums, erklärt: „Wie diese Interaktion funktioniert müssen wir erst noch im Detail erforschen. Auf jeden Fall ermöglichen unsere Ergebnisse, das regionale seismische Risiko besser zu verstehen und zu quantifizieren, insbesondere für die 15-Millionen-Metropole Istanbul im Hinblick auf das bevorstehende Starkbeben".
GFZ / JOL
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
P. Martínez-Garzón et al.: Slow strain release along the eastern Marmara region offshore Istanbul in conjunction with enhanced local seismic moment release, Earth Plan. Sc. Lett. 510, 209 (2019); DOI: 10.1016/j.epsl.2019.01.001 - GONAF Plate Boundary Observatory
- Sektion 4.2: Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren, GeoForschungsZentrum GFZ, Potsdam