17.08.2020

Erdbebenwellen mit Überschallgeschwindigkeit

Rückprojektionsmethode liefert Aufschluss über gefährliche Erdbebendynamik.

Erdbebenfrühwarnsysteme retten Menschenleben. Für eine realistische Einschätzung der Gefahr ist es nötig, die Dynamik der Quelle solcher Erschütterungen zu kennen. Henriette Sudhaus und der Doktorand Andreas Steinberg von der Sektion Geo­wissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) konnten nun zusammen mit einem internationalen Forscher­team nachweisen, dass Erdbeben­brüche sich nicht nur in eine Richtung ausbreiten. Das Beben kann sich auch plötzlich umdrehen und schneller und stärker werden. Eine von Steinberg entwickelte Software macht diesen Effekt sichtbar.
 

Abb.: Lage des Erdbeben­gebiets (Bild: S. P. Hicks et al. / Nat. Geosci. /...
Abb.: Lage des Erdbeben­gebiets (Bild: S. P. Hicks et al. / Nat. Geosci. / Springer Nature)

Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht ein unter­meerisches Erdbeben von 2016 in der Romanche-Störungszone im Mittel­atlantischen Rücken mit der Magnitude 7,1. Hier wurden von britischen Forschern ungewöhnliche Daten mit Ozean­boden­seismometern aufgezeichnet. Die Messungen deuteten darauf hin, dass sich Erdbeben nicht nur gradlinig ausbreiten, sondern auch die Richtung ändern und sich sogar über die Schallwellen­geschwindigkeit im Gestein hinaus beschleunigen können. Bislang war dies nur eine in der Fachwelt diskutierte theoretische Annahme. Um die Vermutung zu verifizieren sollten globale seismische Daten die lokalen Daten ergänzen. Für deren Auswertung brauchten sie weitere Expertise und wandten sich an Andreas Steinberg und Henriette Sudhaus vom Emmy-Noether-Projekt „Brückenschlag zwischen Geodäsie und Seismologie“ (BridGeS). 

Für die Schäden, die Erdbeben anrichten, sind die Stärke und die Dauer der Erschütterungen ausschlaggebend. Diese werden wiederum durch den Bruch­vorgang selbst im Gestein bestimmt. Besonders hohe Amplituden der Erschütterung haben die Scherwellen, eine Art der seismischen Wellen, die quer zur Ausbreitungs­richtung schwingen. Warum manche Erdbeben klein bleiben, und manche sich zu großen Schadensbeben auswachsen, ist nicht ausreichend erforscht. „Die nun vorliegenden Beobachtungen sind zum einen aus wissenschaftlicher Sicht sehr interessant, denn sie lassen auf die Eigenschaften der tektonischen Störung schließen, an welcher das Erdbeben entstand. Ein anderer wichtiger Aspekt ist jedoch die Relevanz, die eine solche Bruchdynamik für das Gefährdungs­potential von Erdbeben hat“, fasst Henriette Sudhaus, die das Projekt BridGeS leitet, die Bedeutung ihrer Beobachtungen zusammen. 

Demnach entstehen bei Bruch­geschwindigkeiten von mehr als der Scherwellen­geschwindigkeit im Gestein in bestimmten Gebieten starke Aufstapelungen der Wellen, ähnlich wie bei einem Überschallknall in der Atmosphäre. Zusammen­genommen bieten beide Phänomene, Richtungs­wechsel und Über­scher­wellengeschwindigkeit, einen ungewöhnlichen und gefährlichen Mix, dem in Gefährdungs­analysen bisher nicht hinreichend Rechnung getragen wird. „Erdbeben dieser Größe sind nicht sehr häufig und unsere Statistiken über ihre Eigenschaften entsprechend schwach. Das Auftreten von ungewöhnlichen Bruch­vorgängen und deren detaillierte Analyse stellen daher einen großen Informations­gewinn dar“, fügt Sudhaus hinzu.

„Mit einer in Kiel in Kooperation mit Professor Frank Krüger von der Universität Potsdam entwickelten Verfeinerung der Rück­projektions-Methode von Erdbeben­wellen (seismic back projection), konnten wir bei der Bruch­analyse des Romanche-Bebens mit der innovativen Zusammen­führung von globalen seismologischen Daten erstmals beobachten, dass die Ausbreitung des Bruches einen vollständigen Richtungswechsel vollführt. Zudem können wir bestätigen, dass der Bruch nach diesem Richtungs­wechsel mit einer seismischen Überschall­geschwindigkeit verläuft“, erklärt Henriette Sudhaus. Sichtbar gemacht wurde das Phänomen mithilfe eines in Kiel entwickelten Computer­programms. „Ich habe für meine Dissertation eine Software entwickelt, welche den Bruchvorgang aus den seismischen Daten mithilfe der Rück­projektions­methode abbildet“, berichtet Andreas Steinberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei BridGeS. 

Anderen Forschern steht diese Open-Source-Technologie frei zur Verfügung „und zur Bestätigung der Beobachtungen war die Rückprojektions­methode besonders geeignet. Mit meiner Software und dank meiner Erfahrung im Umgang damit konnten wir die Kolleginnen und Kollegen bei ihrem spezifischen Problem sehr gut unterstützen. Bisher haben nur theoretische Überlegungen das Phänomen der Richtungs­änderung bei Erdbeben­brüchen beschrieben. Wir haben es nun gemeinsam in einem internationalen Team nachweisen können“, erklärt Andreas Steinberg die Bedeutung der Veröffentlichung. Für die Zukunft könnte er sich vorstellen, dass die Analyse automatisiert verläuft. „Je besser wir vergangene Beben verstehen, desto besser kann ein Frühwarn­system in einer bestimmten Region funktionieren“, ist sich Henriette Sudhaus sicher.

CAU / DE
 

Weitere Infos

EnergyViews

EnergyViews
Dossier

EnergyViews

Die neuesten Meldungen zu Energieforschung und -technologie von pro-physik.de und Physik in unserer Zeit.

Weiterbildung

Weiterbildungen im Bereich Quantentechnologie
TUM INSTITUTE FOR LIFELONG LEARNING

Weiterbildungen im Bereich Quantentechnologie

Vom eintägigen Überblickskurs bis hin zum Deep Dive in die Technologie: für Fach- & Führungskräfte unterschiedlichster Branchen.

Meist gelesen

Themen