27.08.2024

Gigantische Lawine unter Wasser

Bed-5-Ereignis bewegte sich vor Marokko über 2000 Kilometer weit.

Unterwasser­lawinen im Meer können gewaltige Ausmaße annehmen und dabei in nur einem einzigen Ereignis riesige Mengen an Sediment in die Tiefsee trans­portieren. Einmal in Bewegung, sind sie eine immense Gefahr für moderne Infra­strukturen im Meer. Eine der weltweit größten Unterwasser­lawinen, das „Bed 5“-Ereignis aus dem Agadir Canyon vor der Küste Marokkos, konnten nun Forschende unter gemeinsamer Leitung der Christian-Albrechts-Univer­sität zu Kiel und der School of Environ­mental Sciences im britischen Liverpool erstmals umfassend von der Quelle bis zur finalen Ablagerung kartieren und rekon­struieren.

Abb.: Das Forschungsschiff Maria S. Merian trug vor der Küste Marokkos zur...
Abb.: Das Forschungsschiff Maria S. Merian trug vor der Küste Marokkos zur ersten umfassenden Untersuchung einer der weltweit größten untermeerischen Lawinen aus dem Agadir Canyon bei.
Quelle: S. Heinrich, U. Kiel

Dabei widerlegten die Forschenden die bisher gängige Annahme, dass solch gewaltige Unterwasser­lawinen nur durch entsprechend große Anfangs­rutschungen entstehen können. Das untersuchte Ereignis vor etwa 60.000 Jahren begann dagegen als kleiner Erdrutsch am Meeresboden mit einem Volumen von etwa 1,5 Kubikkilometern, wuchs auf das Hundertfache an und bewegte sich über 400 Kilometer durch einen der größten Unterwasser-Canyons der Welt. Dabei riss der Suspensions­strom Geröll, Kies, Sand und Schlamm mit sich, bevor er weitere 1600 Kilometer über den Atlantik­boden zurücklegte. Die neue Studie bildet eine wichtige Grundlage für die Neubewertung von submarinen Hang­rutschungen.

„Unsere Untersuchungen des ‚Bed 5- Suspensions­stroms‘ zeigen eindrucksvoll, wie ein relativ kleines Ereignis am Kopf des Agadir Canyons durch extreme Sediment­aufnahme zu einem gigantischen Strom anwachsen kann. Diesen Prozess konnten wir nun zum ersten Mal nachweisen und damit eine These der geowissenschaftlichen Forschung revidieren“, sagt Christoph Böttner, der die Arbeiten zur aktuellen Studie am Institut für Geowissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität begonnen hatte. „Schneelawinen an Land wachsen typischer­weise auf das vier- bis achtfache ihres Ausgangsvolumens an. Im Ozean konnte die Lawine jetzt mindestens das hundertfache ihres ursprünglichen Volumens aufnehmen und sich mehr als 2.000 Kilometer ausbreiten. Insgesamt begrub die Lawine dabei eine Fläche so groß wie Deutschland,“ ergänzt Geophysiker Böttner.

Der Agadir Canyon vor der marokkanischen Küste ist einer der größten Unterwasser-Canyons der Welt. Mit einer Länge von über 450 Kilometern, einer Breite von bis zu dreißig Kilometern und einer Tiefe von anderthalb Kilometern hat er eine enorme Kapazität für Unterwasser­lawinen. Dieses haben die Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Kiel, Aarhus und Liverpool gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel und des Leibniz-Instituts für Ostsee­forschung Warnemünde (IOW) umfassend untersucht. Grundlage waren vor allem Daten von Expeditionen mit dem deutschen Forschungsschiff Maria S. Merian in den Jahren 2013 und 2023. Das Forscherteam analysierte insgesamt mehr als 300 Bohrkerne aus dem Gebiet, die bei unterschiedlichen Forschungs­fahrten in den vergangenen vierzig Jahre gewonnen wurden. Zusammen mit seismischen und bathymetrischen Daten konnten sie so die riesige Unterwasser­lawine von Kopf bis Fuß kartieren.

Solche Suspensionsströme gehören zu den wichtigsten geologischen Prozessen im Meer. Sie bewegen Material wie Sedimente, Nähr- und Schadstoffe und formen Meeresboden wie auch Lebens­räume für zahlreiche Meeresbewohner. Sie stellen aber auch eine erhebliche Gefahr für Infrastrukturen im Meer dar, auf die der Mensch angewiesen ist wie etwa Seekabel für den Daten­austausch. Im Gegensatz zu Erdrutschen oder Schnee­lawinen an Land sind Unterwasser­lawinen nicht sichtbar und nur sehr schwer zu messen. Die Kenntnis über ihre Auswirkungen ist daher entscheidend für die Einschätzung zukünftiger Ereignisse. 

Mit der umfassenden Dokumen­tation des ‚Bed 5‘-Suspensions­stromes gelang den Forschenden zudem der erste Feldnachweis des Prozesses zur Berechnung des Wachstumsfaktors von Suspensions­strömungen, die „Ignition Theory“. Diese Theorie beschreibt das Wachstum großer Suspensionsströme in submarinen Systemen. Die Suspensionsströme nehmen auf ihrem Weg Sediment auf und werden damit größer und schneller, wodurch sie noch mehr Sediment erodieren und sich weiter ausbreiten können. Dieser verstärkende Prozess endet, sobald die Sediment­konzentration hoch genug ist und die viskosen Kräfte übernehmen. „Mit unserer Studie ist es uns gelungen, einen einzelnen Suspensions­strom dieser Größe nicht nur vollständig zu kartieren, sondern damit auch ihren Wachstums­faktor genau zu berechnen“, sagt Christopher Stevenson von der Universität in Liverpool.

„Die Erkenntnisse aus dem ‚Bed 5-Ereignis‘ sind von enormer Bedeutung für die Vorhersage und Bewertung von marinen Naturgefahren wie Hang­rutschungen. Sie unterstreichen die Notwendigkeit, die Prozesse der Sedimentaufnahme und -verteilung in unter­meerischen Strukturen wie Canyons noch besser zu verstehen, um zukünftige Ereignisse besser vorhersagen und ihre möglichen Auswirkungen auf maritime Infra­strukturen und Ökosysteme abschätzen zu können“, sagt Sebastian Krastel, Leiter der Arbeitsgruppe Marine Geophysik an der CAU.

CAU / JOL

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