30.04.2012

Jenseits der Landau-Theorie

In manchen Schwere-Fermionen-Verbindungen sind Elektronen am quantenkritischen Punkt keine Fermi-Flüssigkeit mehr.

Hochpräzise Messungen von elektrischem Widerstand und Wärmewiderstand von Forschern der Dresdner MPIs, der Rice University in Houston, Texas, und der UCLA erfordern eine Erweiterung der Landau’schen Theorie der Fermi-Flüssigkeit, die seit den 1950er-Jahren als Standardtheorie der Metalle gilt. In Schwere-Fermionen-Verbindungen, also metallischen Leitern, deren Elektronen die bis zu tausendfache Masse herkömmlicher Elektronen zu haben scheinen, kann die überaus erfolgreiche Theorie das Verhalten des Wärmewiderstands und des elektrischen Widerstands nahe am absoluten Nullpunkt der Temperatur bei minus 273 Grad Celsius nicht immer erklären. Nämlich dort nicht, wo die Verbindung einen Quantenphasenübergang durchläuft, das heißt, wo sich ihr Zustand aufgrund der Heisenberg‘schen Unschärfe-Relation ändert. Die Beobachtungen könnten dazu beitragen, die Hochtemperatur-Supraleitung zu erklären und praxistauglicher zu machen.

Abb.: Links der Bildmitte ist die stabförmige Probe des YbRh2Si2 zu erkennen, die nur 2,7 mm × 0,75 mm × 0,05 mm misst. Sie ist am Kühlfinger eines Kryostaten befestigt, der Messungen bis zu tiefsten Temperaturen erlaubt. Oben und unten sind zwei Thermometer, die die Temperaturdifferenz zwischen den Enden der Probe messe. Ein kleinen Heizer (rechts im Bild) erzeugt sie und erlaubt die Bestimmung des Wärmestromes durch die Probe. (Bild: MPI-CPfS)

Forscher des Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe untersuchen seit Jahren Phasenumwandlungen am absoluten Temperaturnullpunkt. Dabei haben sie nun die etablierte Theorie der Metalle an ihre Grenzen geführt. Denn auch bei absolut Null steht nicht alles still: Quantenfluktuationen können eine Phasenumwandlung antreiben, so wie es die thermischen Fluktuationen bei endlichen Temperaturen tun. Um den Übergang zu erreichen, muss statt der Temperatur ein anderer Parameter, etwa die chemische Zusammensetzung oder ein äußeres Magnetfeld variieren.

So kann etwa eine Verbindung aus Ytterbium, Rhodium und Silizium, die bei extrem niedrigen Temperaturen unterhalb von einem Zehntel Kelvin antiferromagnetisch geordnet ist, durch kontinuierliche Erhöhung eines äußeren Magnetfeldes in einen unmagnetischen Zustand gelangen. Der Wert des kritischen Magnetfelds, der quantenkritische Punkt, ist nur am absoluten Nullpunkt der Temperatur definiert. Experimentell kann man aber nicht am absoluten Nullpunkt messen, sondern nur bei, wenn auch kleinen, endlichen Temperaturen. Dort beobachtet man Auswirkungen des Quantenphasenüberganges, und zwar nicht nur exakt im kritischen Magnetfeld, sondern in einem Bereich um das kritische Feld herum.

Quantenkritische Punkte gelten als Schlüssel zum Verständnis von bislang unerklärbaren Phänomenen in der Festkörperphysik wie der Hochtemperatur-Supraleitung. Denn auch hier gibt es Hinweise auf einen kontinuierlichen Quantenphasenübergang. Forscher halten die Quantenkritikalität für ein universelles Prinzip darstellt, das unverstandenen Phänomenen zugrunde liegt. Viele sind der Ansicht, die Mechanismen von kontinuierlichen Quantenphasenübergängen lassen sich nicht vollständig innerhalb der gängigen Theorie der Landau‘ schen Fermi-Flüssigkeit beschreiben. Das Team um Frank Steglich, Direktor am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe, hat nun zusammen mit Forschern der University of California Los Angeles, der Rice University in Houston und des Dresdner Max-Planck-Instituts für die Physik komplexer Systeme klare Hinweise auf eine bislang unbekannte Physik beim Quantenphasenübergang in YbRh2Si2 gefunden.

Sie haben mit der größtmöglichen Präzision den elektrischen Widerstand und den Wärmewiderstand von YbRh2Si2-Proben in der Umgebung des quantenkritischen Punktes bestimmt.  Ihr Ziel war es, die Gültigkeit des Wiedemann-Franz-Gesetzes zu untersuchen. Dieses Gesetz konnten die Dresdner Forscher zunächst auch für YbRh2Si2 bestätigen, als sie den elektrischen und den Wärmewiderstand jeweils bei wenigen Zehntel Grad Kelvin und bei einem Magnetfeld oberhalb des kritischen Magnetfeldes bestimmten. Dort herrscht der Kondo-Effekt vor: Leitungselektronen, die den Stromfluss bilden, und fest an das Metall Ytterbium gebundene 4f-Elektronen wechselwirken intensiv miteinander. Die magnetischen Momente der beiden Arten von Elektronen, die durch die Drehung der geladenen Teilchen um die eigene Achse sowie um den Atomkern herum erzeugt werden, heben sich dabei gegenseitig auf. Wegen der Wechselwirkung schleppen sich die Elektronen durch das Metall wie durch zähen Sirup. Sie erscheinen daher wie unnatürlich schwere Elektronen, mit einer vervielfachten Masse.

Bei den scheinbar schwergewichtigen Elektronen handelt es sich um Quasiteilchen. Die elektronischen Quasiteilchen im YbRh2Si2, die sich bei Temperaturen unter etwa minus 170 Grad Celius allmählich bilden, lassen sich im Rahmen der Theorie der Landau’schen Fermi-Flüssigkeit elegant beschreiben. Zwar erscheinen die Quasipartikel des Kondo-Effekts besonders schwer. Doch ansonsten verhalten sie sich wie nicht-wechselwirkende Elektronen, weshalb das Wiedemann-Franz-Gesetz gültig bleibt. Bei den Messungen in der Nähe des quantenkritischen Punktes erlebte das Team Steglich jedoch eine Überraschung, als sie den Temperaturverlauf der beiden Messgrößen bis zum absoluten Temperaturnullpunkt extrapolierten. Dort müssten elektrischer Widerstand und Wärmewiderstand gleich groß sein. Doch der Wärmewiderstand überwog den elektrischen Widerstand um zehn Prozent. „Das Wiedemann-Franz-Gesetz verliert in diesem Material am quantenkritischen Punkt seine Gültigkeit“, folgert Heike Pfau vom MPI für chemische Physik fester Stoffe.

Aus dieser Beobachtung ziehen die Forscher nun mehrere Schlussfolgerungen. Die erste betrifft den Bereich, in dem sich die antiferromagnetische Ordnung bereits voll ausgebildet hat. Dort erklären sie die höhere Wärmeleitfähigkeit damit, dass magnetische Anregungen, die die Ordnung lokal ein wenig durcheinanderbringen, Wärme transportieren. Folglich existieren im antiferromagnetisch geordneten YbRh2Si2, in dem magnetische Anregungen Wärme transportieren, die Quasipartikel nicht mehr. „Damit bestätigen wir Hinweise aus unseren früheren Untersuchungen, dass die Quasipartikel in unserem Schwere-Fermionen-System am quantenkritischen Punkt auseinanderfallen“, sagt Pfau. Da es auch quantenkritische Übergänge gibt, bei denen die Quasipartikel erhalten bleiben, bezeichnen die Physiker ihren quantenkritischen Punkt als unkonventionell.

Für den quantenkritischen Punkt selbst brauchen die Forscher allerdings eine andere Erklärung für die erhöhte Wärmeleitfähigkeit als die magnetischen Anregungen – schließlich gibt es dort noch keine antiferromagnetische Ordnung. Hier erklären sie die Abweichungen vom Wiedemann-Franz-Gesetz mit magnetischen Quantenfluktuationen. Demnach schwingen die magnetischen Momente der Elektronen in den 4f-Orbitalen des Ytterbiums nahe des quantenkritischen Punktes besonders stark. „Das ermöglicht uns erstmals einen Einblick, wie die Quasipartikel aufbrechen, nämlich durch die quantenkritischen Fluktuationen“, sagt Pfau.

Daraus wiederum ergibt sich eine noch weiter reichende Schlussfolgerung. „Während sich die Quasipartikel auflösen, wenn sich die Leitungselektronen und die 4f-Elektronen gerade voneinander trennen, kann die Theorie der Landau‘ schen Fermi-Flüssigkeit nicht mehr gelten“, so Pfau. Denn diese Theorie beschreibt das Verhalten der Elektronen nur korrekt, wenn sich die Leitungselektronen oder die Quasipartikel wie eine Flüssigkeit frei bewegen können. Wenn es die einen noch nicht und die anderen nicht mehr gibt, ist sie offenbar nicht mehr anwendbar.

Eine Theorie zur unkonventionellen Quantenkritikalität könnte helfen, anwendungsrelevante Rätsel wie die Hochtemperatur-Supraleitung zu lösen. Denn diese ist möglicherweise ebenfalls eine Auswirkung eines quantenkritischen Punktes, die sich bereits weit oberhalb des absoluten Nullpunkts der Temperatur bemerkbar macht.

MPG / OD

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