14.11.2013

Kieselsteintheorie

Warum findet man am Meeresstrand keine kreisrunden oder kugelförmigen Kiesel?

An den Stränden der Meere liegen zahllose Steine, die nahezu die Form eines Ellipsoids haben. Schon Aristoteles führte die abgerundete Gestalt dieser Kiesel darauf zurück, wie sie sich aneinander reiben und dabei abschleifen. Lord Rayleigh stellte Experimente an, um die Form der Steine zu reproduzieren. Seither hat es viele Versuche gegeben, mit mehr oder weniger aufwendigen Theorien die beobachteten Kieselformen und ihre statistischen Verteilungen zu erklären. Eine neue und überraschend einfache Erklärung, die auf zwei verschiedenen Abschleifprozessen beruht, hat jetzt Klaus Winzer von der Universität Göttingen gegeben.

Abb.: Ein elliptischer Stein wird vom Wasser mitgerissen und rollt auf dem Sandboden. (Quelle: K. Winzer)

Im Laufe mehrerer Jahre hatte der seit 2005 emeritierte Physiker an den Stränden von Las Palmas und den Kapverdischen Inseln sowie an der türkischen Küste bei Alanya rund 1060 ellipsoide Steine gesammelt und vermessen. Er beschrieb die Form der Kiesel durch die Länge der drei Hauptachsen des Ellipsoids: abc. Dabei variierte a zwischen 4 mm und 8,5 cm, während die jeweilige Masse 0,2 g bis 2 kg betragen konnte. Die Kiesel bestanden aus Basalt oder Marmor mit Dichten von 3,6 g/cm3 bzw. 2,6–2,8 g/cm3.

Die statistischen Verteilungen der ermittelten Achsenverhältnisse b/a, c/a und c/b ließen sich jeweils durch eine Gauß-Verteilung beschreiben. Die drei Gauß-Glocken hatten etwa dieselbe Breite, waren jedoch um unterschiedliche Mittelwerte (0,748, 0,371 und 0,504) zentriert (s. Abb.). Wie sich zeigte, war b stets merklich kleiner als a, sodass nahezu kreisförmige Kiesel äußerst selten vorkamen. Zudem war c/a kleiner als 0,8. Somit sollten kugelförmige Steine nie vorkommen. Und auch die Wahrscheinlichkeit, einen Kiesel mit der Form eines Rotationsellipsoids (b = c) zu finden, ist praktisch Null.

Die Steine erhalten ihre abgerundete Form dadurch, dass sie in der Brandung von den Wellen über den Sandboden bewegt und dabei von den Sandkörnern abgeschliffen werden. Klaus Winzer hat hier zwei Prozesse identifiziert. Zum einem werden die Steine flach über den Sandboden bewegt, sodass die a-b-Ebene horizontal liegt und der Stein längs der c-Achse abgeschliffen wird. Dies geht umso schneller, je größer die mittlere Krümmung (c/2)(1/a2+1/b2) der dem Sand zugewandten Fläche ist.

Abb.: Die Häufigkeitsverteilungen der drei Achsenverhältnisse für 1060 elliptische Kieselsteine (Bild: K. Winzer)

Daraus lässt sich für c(t) eine Differentialgleichung gewinnen, aus deren Lösung Winzer folgende Schlüsse zieht. Steine mit einem kleinen b/a-Wert, die somit länglich sind, werden in c-Richtung schneller abgeschliffen als breitere Steine. Deshalb sollte auch ihr c/a-Wert klein sein, was durch die Statistik bestätigt wird: Längliche Steine sind zumeist auch flach. Ist hingegen b/a nahezu 1, so wird der Stein in c-Richtung nur sehr langsam abgeschliffen. Nahezu kreisrunde Steine sind demnach im Mittel etwas dicker.

Den zweiten Prozess, der die Kiesel formt, kann man beobachten, nachdem sich eine Welle am Strand gebrochen hat. Dann lösen sich Steine, die vom zurückweichenden Wasser mitgerissen werden. Die ellipsoidförmigen Steine können im Wasser den Strand herabrollen, wobei sie sich um die c-Richtung drehen und ihre a-b-Ebene senkrecht steht (s. Abb.). Ein auf dem Sand rollender Stein wird längs seines Umfangs abgeschliffen. Man sollte nun erwarten, dass die in a-Richtung vorstehenden Partien schneller abgenutzt werden als die Partien in b-Richtung. Demnach müssten durch diesen Prozess kreisförmige Kiesel entstehen. Doch es passiert etwas anderes.

Rollt ein Kiesel um seine c-Achse mit nahezu konstanter Winkelgeschwindigkeit den Strand herab, so bewegt sich sein Auflagepunkt wegen der elliptischen Form des Steins nicht mit konstanter Geschwindigkeit. In der Nähe der a-Achse kommt der Auflagepunkt schneller voran als der Schwerpunkt des Steins, in der Nähe der b-Achse langsamer. Dadurch tritt ein Schlupf auf, mal mit positivem, mal mit negativem Vorzeichen, der dazu führt, dass sich der Stein am Sandboden reibt und dabei abnutzt.

Wie stark der Stein durch den Schlupf abgenutzt wird, hängt davon ab, mit welcher Kraft er auf den Sandboden drückt. Und hier gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den Partien des elliptischen Umfangs nahe der a- und der b-Achse. Für eine mit konstanter Winkelgeschwindigkeit rollende Ellipse erfährt der Auflagepunkt nahe der a-Achse eine starke zusätzliche Beschleunigung nach oben, die der (um den Auftrieb im Wasser verminderten) Schwerebeschleunigung entgegenwirkt. Rollt der Stein schnell genug, so kann diese Beschleunigung die Schwerebeschleunigung übertreffen – der Stein löst sich von der Unterlage und hüpft.

Hingegen tritt eine schwächere zusätzliche Beschleunigung nach unten auf, wenn sich der Auflagepunkt nahe der b-Achse befindet. Demnach werden die nahe der b-Achse liegenden Partien des rollenden Stein wesentlich stärker auf den Sand gedrückt und dadurch abgeschliffen, als die Partien nahe der a-Achse. Wie die Berechnungen des Forschers zeigen, sollte sich dadurch nach hinreichend langer Zeit ein konstantes Verhältnis zwischen a und b einstellen: a/b=0,75. Dies stimmt hervorragend mit dem Mittel (0,748) der gemessenen a/b-Werte überein. Zudem erklärt es auch, warum man praktisch keine kreis- oder gar kugelförmigen Kiesel findet.

Da die beiden von Winzer in Betracht gezogenen Prozesse unabhängig voneinander sind, lässt sich die Abnutzung längs der c-Achse nicht mit der in der a-b-Ebene in Beziehung setzen. Deshalb können bisher auch keine Vorhersagen für die Mittelwerte von c/a und c/b gemacht werden. Es bleibt also noch einiges für die Kieselsteintheoretiker zu tun.

Rainer Scharf

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