02.08.2017

Kontrollierter Absturz für Envisat

Neue Methode ermittelt die Eigenrotation des havarierten Satelliten.

Unkon­trollierte Objekte im Erdorbit bergen massive Risiken für funktions­tüchtige Satelliten und die gesamte Raumfahrt. Seit April 2012 fliegt auch der euro­päische Umweltsatellit Envisat manövrier­unfähig um die Erde. Das Fraunhofer-Institut für Hoch­frequenz­physik und Radar­­technik FHR hat weg­weisende Methoden entwickelt, um die Eigen­rotation des hava­rierten Satel­liten präzise zu ermitteln und so einen zukünf­tigen kontroll­ierten Absturz effektiv zu unter­stützen.

Abb.: Mit dem Beobachtungsradar TIRA kann die Eigenrotation des havarierten Satelliten Envisat bestimmt werden. (Bild: Fh.-FHR)

Envisat ist eines der größten Raum­fahrzeuge, die jemals von der ESA in die Erdum­laufbahn gebracht wurden. Bereits 2002 wurde der 2,3 Milliarden Euro teure und rund acht Tonnen schwere Umwelt­satellit gestartet und verrichtete bis 2012 zuver­lässig seinen Dienst – die Über­wachung des Klimas, der Ozeane und der Land­flächen des Planeten Erde. Dann ging der Kontakt verloren. Der Erd­beobachtungs­satellit fliegt in einer erdnahen Umlauf­bahn in etwa 800 Kilometer Höhe – eine Region des Erd­orbits mit einer hohen Populations­dichte an Weltraum­objekten. „Weltraum­müll ist ein großes Problem in der erdnahen Raumfahrt. Der nun unkon­trollierte Flug von ENVISAT bedeutet eine all­tägliche Gefahr von Kolli­sionen mit aktiven Satelliten und Raum­fahrzeugen“, sagt Delphine Cerutti-Maori, Geschäfts­feld­sprecherin Weltraum am Fraun­hofer FHR. „Darüber hinaus entsteht weiteres Risiko­potenzial, denn Zusammen­stöße können zur Entstehung neuer Trümmer­teile beitragen, die wiederum mit anderen Objekten kolli­dieren könnten – ein gefähr­licher Schneeball­effekt.“

Um der Situation zu begegnen, sucht die ESA zurzeit nach Lösungs­ansätzen, um Envisat auf eine tiefere Umlauf­bahn zu bringen und schließlich in der Erdatmo­sphäre kontrol­liert und sicher verglühen zu lassen. Solche De-Orbiting-Missionen können jedoch nur gelingen, wenn zuvor die Eigen­drehbewegung des Satelliten korrekt bestimmt wird. Erst dann kann festgelegt werden, mit welcher Methode der Satellit einge­fangen werden soll. Das Forscher­team des Fraunhofer FHR will zukünftige De-Orbiting-Missionen effizient unter­stützen.

„Unser Weltraum­beobachtungs­radar TIRA kombiniert ein Ku-Band-Abbildungs­radar und ein L-Band-Ziel­verfolgungs­radar. Das bietet uns mittels ISAR-Bildgebung die einzig­artige Möglich­keit, Weltraum­objekte hochauf­gelöst abzu­bilden“, sagt Ludger Leushacke, Abteilungs­leiter Radar zur Weltraum­beobachtung am Fraunhofer FHR. „Im Gegen­satz zu op­tischen Systemen bietet unser Radar-System ent­scheidende Vorteile: Voll­ständige Unabhängig­keit vom örtlichen Wetter, Einsatz­fähigkeit bei Tag und bei Nacht, sowie eine Auflösung, die völlig unab­hängig von der Entfernung des Objekts ist. Zudem können wir sowohl die Drehge­schwindigkeit von schnell rotierenden Objekten wie Envisat als auch von langsam ro­tierenden Objekten bestimmen.“ Die mit TIRA aufge­nommenen Radar-Rohdaten von Envisat werden mit speziellen Methoden prozes­siert und im Anschluss ausge­wertet.

Hochauf­gelöste Radar­bilder werden erzeugt, indem die relative Drehung des beobach­teten Objekts zur sta­tionären Radara­nlage genutzt wird. Dabei wird das Objekt von ver­schiedenen Betrachtungs­winkeln beleuchtet. Aller­dings hängt die Quer­skalierung im Radarbild von der tat­ächlichen Drehge­schwindigkeit ab, die aber selbst ja erst aus den Daten gewonnen werden soll. „Zur Bewäl­tigung dieser Proble­matik bei der Bild­gewinnung hat unser Experten­team eine geeignete Methodik entwickelt, die Drahtgitter­modelle der Objekte verwendet, um die Quer­skalierung richtig zu schätzen“, sagt Cerutti-Maori. „Hierzu wird an ver­schiedene Bilder einer Passage manuell ein Drahtgitter­modell des Objektes projiziert. Aus der zeit­lichen Entwicklung der Projektionen über eine Passage lässt sich dann der Rotations­vektor des Objekts zuverlässig abschätzen.“

Für die Analyse der langzeit­lichen Entwicklung der Eigen­bewegung von Envisat wurden Beobach­tungen aus dem Zeitraum von 2011, kurz vor Abbruch des Kontakts, bis 2016 heran­gezogen. Im regulären Dienst rotierte Envisat relativ langsam mit etwa 0.06°/s, was einer Umdrehung pro Erdum­lauf entsprach. Kurz nach dem Abriss der Verbindung am 8. April 2012 konnte ein Anstieg der Eigendreh­bewegung auf fast 3°/s fest­gestellt werden, etwa 45 Umdrehungen pro Umlauf. Dieser Anstieg der Eigen­drehge­schwindigkeit deutet nicht einen Zusammen­stoß mit anderen Objekten hin, da die Zunahme graduell erfolgte und nicht plötzlich, lautet der Rückschluss der Forscher am Fraunhofer FHR.

Seit Mitte 2013 ist eine Verlang­samung der Drehge­schwindigkeit zu beobachten: Sie lag Ende 2016 bei ca. 1.6°/s. „Unsere Unter­suchungen können maß­geblich dazu beitragen, in Zukunft eine kontrollierte Entfernung des hava­rierten Envisat zu unterstützen, wenn die ESA sich dazu entscheidet“, so Leushacke. „Die am Fraun­hofer FHR entwickelten Methoden zur bildge­stützten Aufklärung sind aktuell weltweit einzig­artig und eignen sich bestens, um bei Weltraum­objekten Aus­richtung und Eigendreh­bewegung zu analy­sieren und deren langzeit­liche Entwicklung belastbar zu prognos­tizieren. Darüber hinaus können sie eingesetzt werden, um auch poten­zielle äußere Beschä­digungen der Satelliten effi­zient zu unter­suchen.“

FhG / JOL

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