Kontrollierter Absturz für Envisat
Neue Methode ermittelt die Eigenrotation des havarierten Satelliten.
Unkontrollierte Objekte im Erdorbit bergen massive Risiken für funktionstüchtige Satelliten und die gesamte Raumfahrt. Seit April 2012 fliegt auch der europäische Umweltsatellit Envisat manövrierunfähig um die Erde. Das Fraunhofer-Institut für Hochfrequenzphysik und Radartechnik FHR hat wegweisende Methoden entwickelt, um die Eigenrotation des havarierten Satelliten präzise zu ermitteln und so einen zukünftigen kontrollierten Absturz effektiv zu unterstützen.
Abb.: Mit dem Beobachtungsradar TIRA kann die Eigenrotation des havarierten Satelliten Envisat bestimmt werden. (Bild: Fh.-FHR)
Envisat ist eines der größten Raumfahrzeuge, die jemals von der ESA in die Erdumlaufbahn gebracht wurden. Bereits 2002 wurde der 2,3 Milliarden Euro teure und rund acht Tonnen schwere Umweltsatellit gestartet und verrichtete bis 2012 zuverlässig seinen Dienst – die Überwachung des Klimas, der Ozeane und der Landflächen des Planeten Erde. Dann ging der Kontakt verloren. Der Erdbeobachtungssatellit fliegt in einer erdnahen Umlaufbahn in etwa 800 Kilometer Höhe – eine Region des Erdorbits mit einer hohen Populationsdichte an Weltraumobjekten. „Weltraummüll ist ein großes Problem in der erdnahen Raumfahrt. Der nun unkontrollierte Flug von ENVISAT bedeutet eine alltägliche Gefahr von Kollisionen mit aktiven Satelliten und Raumfahrzeugen“, sagt Delphine Cerutti-Maori, Geschäftsfeldsprecherin Weltraum am Fraunhofer FHR. „Darüber hinaus entsteht weiteres Risikopotenzial, denn Zusammenstöße können zur Entstehung neuer Trümmerteile beitragen, die wiederum mit anderen Objekten kollidieren könnten – ein gefährlicher Schneeballeffekt.“
Um der Situation zu begegnen, sucht die ESA zurzeit nach Lösungsansätzen, um Envisat auf eine tiefere Umlaufbahn zu bringen und schließlich in der Erdatmosphäre kontrolliert und sicher verglühen zu lassen. Solche De-Orbiting-Missionen können jedoch nur gelingen, wenn zuvor die Eigendrehbewegung des Satelliten korrekt bestimmt wird. Erst dann kann festgelegt werden, mit welcher Methode der Satellit eingefangen werden soll. Das Forscherteam des Fraunhofer FHR will zukünftige De-Orbiting-Missionen effizient unterstützen.
„Unser Weltraumbeobachtungsradar TIRA kombiniert ein Ku-Band-Abbildungsradar und ein L-Band-Zielverfolgungsradar. Das bietet uns mittels ISAR-Bildgebung die einzigartige Möglichkeit, Weltraumobjekte hochaufgelöst abzubilden“, sagt Ludger Leushacke, Abteilungsleiter Radar zur Weltraumbeobachtung am Fraunhofer FHR. „Im Gegensatz zu optischen Systemen bietet unser Radar-System entscheidende Vorteile: Vollständige Unabhängigkeit vom örtlichen Wetter, Einsatzfähigkeit bei Tag und bei Nacht, sowie eine Auflösung, die völlig unabhängig von der Entfernung des Objekts ist. Zudem können wir sowohl die Drehgeschwindigkeit von schnell rotierenden Objekten wie Envisat als auch von langsam rotierenden Objekten bestimmen.“ Die mit TIRA aufgenommenen Radar-Rohdaten von Envisat werden mit speziellen Methoden prozessiert und im Anschluss ausgewertet.
Hochaufgelöste Radarbilder werden erzeugt, indem die relative Drehung des beobachteten Objekts zur stationären Radaranlage genutzt wird. Dabei wird das Objekt von verschiedenen Betrachtungswinkeln beleuchtet. Allerdings hängt die Querskalierung im Radarbild von der tatächlichen Drehgeschwindigkeit ab, die aber selbst ja erst aus den Daten gewonnen werden soll. „Zur Bewältigung dieser Problematik bei der Bildgewinnung hat unser Expertenteam eine geeignete Methodik entwickelt, die Drahtgittermodelle der Objekte verwendet, um die Querskalierung richtig zu schätzen“, sagt Cerutti-Maori. „Hierzu wird an verschiedene Bilder einer Passage manuell ein Drahtgittermodell des Objektes projiziert. Aus der zeitlichen Entwicklung der Projektionen über eine Passage lässt sich dann der Rotationsvektor des Objekts zuverlässig abschätzen.“
Für die Analyse der langzeitlichen Entwicklung der Eigenbewegung von Envisat wurden Beobachtungen aus dem Zeitraum von 2011, kurz vor Abbruch des Kontakts, bis 2016 herangezogen. Im regulären Dienst rotierte Envisat relativ langsam mit etwa 0.06°/s, was einer Umdrehung pro Erdumlauf entsprach. Kurz nach dem Abriss der Verbindung am 8. April 2012 konnte ein Anstieg der Eigendrehbewegung auf fast 3°/s festgestellt werden, etwa 45 Umdrehungen pro Umlauf. Dieser Anstieg der Eigendrehgeschwindigkeit deutet nicht einen Zusammenstoß mit anderen Objekten hin, da die Zunahme graduell erfolgte und nicht plötzlich, lautet der Rückschluss der Forscher am Fraunhofer FHR.
Seit Mitte 2013 ist eine Verlangsamung der Drehgeschwindigkeit zu beobachten: Sie lag Ende 2016 bei ca. 1.6°/s. „Unsere Untersuchungen können maßgeblich dazu beitragen, in Zukunft eine kontrollierte Entfernung des havarierten Envisat zu unterstützen, wenn die ESA sich dazu entscheidet“, so Leushacke. „Die am Fraunhofer FHR entwickelten Methoden zur bildgestützten Aufklärung sind aktuell weltweit einzigartig und eignen sich bestens, um bei Weltraumobjekten Ausrichtung und Eigendrehbewegung zu analysieren und deren langzeitliche Entwicklung belastbar zu prognostizieren. Darüber hinaus können sie eingesetzt werden, um auch potenzielle äußere Beschädigungen der Satelliten effizient zu untersuchen.“
FhG / JOL