Kriechen statt Brechen
Eine Analyse von Erdbebenwellen in der Ägäis deutet auf eine weiträumige, kriechende Verformung der Unterkruste der Erde hin.
Eine Analyse von Erdbebenwellen in der Ägäis deutet auf eine weiträumige, kriechende Verformung der Unterkruste der Erde hin.
Während sich an der Erdoberfläche Verformungen in lokalen Brüchen und Beben entladen, finden in der Unterkruste der Erde eher großflächige, kriechende Bewegungen statt. Diese These stützen Ergebnisse eines internationalen Geowissenschaftler-Teams um Wolfgang Friedrich von der Ruhr-Universität in Bochum. Die Forscher haben mehrere Jahre lang Erdbebenwellen in der Ägäis aufgezeichnet und anhand ihrer Geschwindigkeit Rückschlüsse auf die Kristallausrichtung tieferer Erdschichten gezogen. In der südlichen Ägäis, die in den letzten fünf Millionen Jahren nur schwachen Deformationen unterworfen war, hat sich überraschenderweise die Ausrichtung früherer Deformationen erhalten.
Bei der Kollision von Erdplatten kommt es zu komplexen Deformationsvorgängen in der Lithosphäre, welche die obersten 60 bis 100 km des Erdkörpers mit der Erdkruste und Teilen des Erdmantels umfasst. In der oberen Erdkruste verhält sich das Gestein spröde. Durch Verformungen bauen sich Spannungen auf, die sich lokal begrenzt in Erdbeben entladen. In der wärmeren Unterkruste ab 20 km Tiefe und dem obersten Erdmantel kann es aber auch zu langsamen Kriechbewegungen des Gesteins kommen, die über geologische Zeiträume von mehreren Millionen Jahren hinweg zu beträchtlichen Verschiebungen anwachsen können. Was genau in der Unterkruste passiert, war bislang unklar. Friederich und seine Kollegen haben die Deformationsvorgänge in der Lithosphäre der Ägäis untersucht, wo die Afrikanische mit der Europäischen Platte zusammenstößt.
Die Forscher stützten sich dabei auf die Messungen von Erdbebenwellen an verschiedenen Seismographennetzen in der Region. „In der Ägäis finden jeden Monat 1000 Erdbeben statt, die drei bis fünf stärkeren kommen für eine Analyse in Frage“, erklärt Friederich. Dabei kommt es darauf an, Erdbebenwellen verschiedener Richtungen zu analysieren. Denn die Geschwindigkeit ihrer Ausbreitung lässt Rückschlüsse auf die Struktur tief liegender Gesteinsschichten zu. „Die Deformation von Gesteinen verändert das Kristallgefüge“, so Friederich. „Im Laufe von Millionen Jahren richten sich die gesteinsbildenden Minerale durch die Verformung aus. Ohne diese Deformationen haben sie eine zufällige Verteilung in alle Richtungen.“ Wenn es zu einer Ausrichtung der Minerale gekommen ist, breiten sich Erdbebenwellen parallel dazu schneller aus als senkrecht dazu.
Aktuelle Messungen der Verschiebung der Erdplatten in der Ägäis an der Erdoberfläche mit GPS (Global Positioning System) zeigen eine Ausdehnung der nördlichen Ägäis in nord-südlicher Richtung, während die südliche Ägäis nur eine sehr geringe Deformation erfährt. Wie zu erwarten war, sind nach den Ergebnissen der Forscher die Minerale in der nördlichen Ägäis ebenfalls durch die gesamte Lithosphäre bis in den Erdmantel hinein konsistent in Nord-Süd-Richtung ausgerichtet und zeigen damit die jüngere Extensionsrichtung an. In der südlichen Ägäis sieht es anders aus. Der oberste Erdmantel zeigt nur eine schwache Ausrichtung der Minerale – entsprechend der nur schwachen Deformation in der jüngeren Erdgeschichte. „In der Unterkruste haben wir aber überraschenderweise eine deutliche Ausrichtung in Nord-Ost nach Süd-West-Richtung gefunden“, berichtet Friederich. Diese Ausrichtung stimmt mit der Extensionsrichtung der Ägäis im Miozän (vor 20 bis fünf Millionen Jahren) überein. „Offenbar wurden die Minerale in der Unterkruste im Miozän ausgerichtet und haben diese Orientierung bis heute beibehalten“, folgert der Geophysiker. Das deutet darauf hin, dass die Unterkruste sich nicht lokalisiert, sondern großräumig durch „Kriechen“ verformt.
Ruhr-Universität Bochum / AL