04.09.2014

Künstliche Zellen bewegen sich ohne äußeren Einfluss

Erstmals aktives Zellskelett-Membran-System mit einer biomechanischen Funktion gebaut.

Eine Zelle ist ein komplexes Gebilde mit einem ausgeklügelten Stoffwechsel. Ihr evolutionärer Vorfahr, die Urzelle, bestand hingegen nur aus einer Membran und wenigen Molekülen. Dabei handelte es sich um ein minimalistisches, aber bereits perfekt arbeitendes System. Zurück zu den Ursprüngen der Zelle lautet daher das Motto der Forscher um Andreas Bausch von der TU München. Sie folgen dem Prinzip der Synthetischen Biologie, die einzelne Zellbausteine zu künstlichen biologischen Systemen mit neuen Eigenschaften zusammenfügt. Nun ist es den Biophysiker gelungen, ein zellähnliches Modell mit einer biomechanischen Funktion zu bauen: Ohne Einfluss von außen bewegt und verformt es sich.

Abb.: Unterschiedlich geformte Vesikel. (Bild: TUM)

Das Modell der Biophysiker setzt sich aus einer Membranhülle, zwei verschiedenen Sorten von Biomolekülen und einer Art Kraftstoff zusammen. Die Hülle, das Vesikel, besteht aus einer zweischichtigen Lipidmembran, analog zu natürlichen Zellmembranen. Die Vesikel füllen die Wissenschaftler mit Mikrotubuli, einem röhrenförmigen Bestandteil des Zellskelettes, und mit Kinesinmolekülen. Kinesine dienen gewöhnlich in der Zelle als molekulare Motoren, die entlang der Mikrotubuli Zellbausteine transportieren. Im Experiment schieben diese Motoren die Röhrchen permanent aneinander entlang. Dafür benötigen Kinesine den Energieträger ATP, der im Versuchsansatz ebenfalls vorhanden ist.

Die Mikrotubuli-Röhrchen bilden im Experiment physikalisch gesehen direkt unter der Membran einen zweidimensionalen Flüssigkristall, der ständig in Bewegung ist. „Man kann sich diese Flüssigkristallschicht vorstellen wie Baumstämme, die auf einem See treiben“, erklärt Felix Keber von der TUM. „Wird es zu dicht, ordnen sie sich parallel an und können doch noch aneinander vorbei treiben.“

Entscheidend für die Deformation der künstlichen Zellkonstruktion sind Fehlstellen, die der Flüssigkristall schon im Ruhezustand in Kugelform aufweist. Mathematiker erklären solche Phänomene mit dem Poincare-Hopf-Theorem, oder anschaulich dem „Satz des Igels“. Denn so wie man die Stacheln eines Igels nie bürsten kann, ohne dass eine kahle Stelle entsteht, können sich auch die Mikrotubuli nicht komplett gleichmäßig von innen an die Membranwand anlagern. Die Röhrchen stellen sich daher an einige Stellen leicht quer zueinander und dies in einer ganz bestimmten Geometrie. Da sich im Fall des Experiments die Mikrotubuli durch die Aktivität der Kinesinmoleküle zudem ständig aneinander entlang bewegen, wandern auch die Fehlstellen. Erstaunlicherweise tun sie dies auf eine sehr gleichmäßige und periodische Art und Weise, oszillierend zwischen zwei definierten Anordnungen.

Solange der Vesikel eine Kugelform bildet, haben die Fehlstellen noch keinen Einfluss auf die äußere Form der Membran. Aber sobald ihm die Forscher über Osmose Wasser entziehen, beginnt er sich durch die Bewegungen im Inneren zu verformen. Verliert der Vesikel mehr und mehr Wasser, so entstehen aus der überschüssigen Membran sogar stachelförmige Fortsätze, wie sie einige Einzeller zur Fortbewegung nutzen. Dabei bilden sich faszinierend viele verschiedene Formen und Dynamiken. Was auf den ersten Blick beliebig erscheint, gehorcht in Wahrheit physikalischen Gesetzen. Und so ist es den Wissenschaftlern gelungen, einige Gesetzmäßigkeiten wie das periodische Verhalten der Vesikel zu entschlüsseln. Auf deren Grundlage lassen sich wiederum Vorhersagen für andere Systeme treffen.

„Mit unserem synthetischen biomolekularen Modell haben wir eine ganz neue Möglichkeit geschaffen, um minimale Zellmodelle zu entwickeln“, erklärt Bausch. „Es ist ideal geeignet, um modular die Komplexität zu erhöhen und so kontrolliert zelluläre Prozesse, wie Zellmigration oder Zellteilung, nachzubauen. Dass sich das künstlich geschaffene System vollständig physikalisch beschreiben lässt, nährt unsere Hoffnung, bei den nächsten Schritten auch die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der vielfältigen Zellverformungen entdecken zu können.“

TUM / RK

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