09.09.2004

Laminar oder turbulent?

Strömungen in Röhren werden überraschend abrupt turbulent. Warum? Das haben Experimentalphysiker und Theoretiker jetzt gemeinsam herausgefunden.


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Strömungen in Röhren werden überraschend abrupt turbulent. Warum? Das haben Experimentalphysiker und Theoretiker jetzt gemeinsam herausgefunden.

Die Turbulenz von Flüssigkeiten ist eine rätselhafte und doch alltägliche physikalische Erscheinung. Um sie zu sehen, muss man nur einen Wasserhahn langsam immer weiter aufdrehen. Dann kann man beobachten, wie eine zunächst gleichförmige, laminare Strömung plötzlich unregelmäßig und chaotisch wird. Bei diesem Übergang nimmt die Reibung zu, sodass beim selben Durchsatz für eine turbulente Strömung ein größerer Druck nötig ist als für eine laminare. Gerade die Turbulenz von Rohrströmungen hat sich den Erklärungsversuchen der Physiker bisher hartnäckig widersetzt. Doch mit Hilfe aufwändiger Experimente und Computersimulationen konnte jetzt eine internationale Forschergruppe ein in sich stimmiges Bild von turbulenten Rohrströmungen gewinnen.

Die Untersuchung von Rohrströmungen hat eine lange Geschichte. Schon 1839 hatte Gotthilf Heinrich Ludwig Hagen beobachtet, dass eine Flüssigkeit auf zwei grundlegend verschiedene Weisen durch ein Rohr fließen kann: laminar oder turbulent. Bei der laminaren Strömung zeigt die Strömungsgeschwindigkeit ein parabolisches Profil mit einem Maximum in der Rohrmitte und einer stetigen Abnahme auf Null zum Rand des Rohres hin. In turbulenten Strömungen sind die Verhältnisse so chaotisch und kompliziert, dass sie sich zunächst einer quantitativen Erfassung entzogen.

Beim Übergang von der laminaren zur turbulenten Rohrströmung spielen instabile transiente Strömungsformen eine entscheidende Rolle. (Quelle: TU Delft)

Doch 1883 beschrieb Osborne Reynolds eine Serie von Experimenten, in denen er die Stabilität von Rohrströmungen systematisch untersucht hatte. Er fand heraus, dass der Übergang von der laminaren zur turbulenten Strömung nur von einer dimensionslosen Zahl abhängt, der Reynoldszahl Re=DU/ν. Dabei ist U die über den kreisförmigen Rohrquerschnitt gemittelte Strömungsgeschwindigkeit, D der Rohrdurchmesser und ν die kinematische Viskosität, die die Zähigkeit der strömenden Flüssigkeit charakterisiert. In typischen Rohrströmungen setzt die Turbulenz bei Re=2000 ein. Dafür sind Unregelmäßigkeiten in der anfangs laminaren Strömung oder Unebenheiten der Rohrwand verantwortlich. Indem man diese Störungen so klein wie möglich gemacht hat, konnte man das Einsetzen der Turbulenz bis zu Re=100.000 verzögern.

Die Turbulenz von Rohrströmungen wird also von Störungen ausgelöst, die nicht beliebig klein sein dürfen. Das wirft jedoch Probleme auf, wenn man die Stabilität der Strömung analysieren will. Das übliche Vorgehen, den Ausgangszustand infinitesimal kleinen Störungen zu unterwerfen und dann nach den Abweichungen vom Ausgangszustand zu suchen, die am schnellsten anwachsen, schlägt hier fehl. Tatsächlich setzt die Turbulenz in der Röhre ja auch nicht stetig ein, sobald die Reynoldszahl einen kritischen Wert überschreitet. Vielmehr tritt sie plötzlich und voll entfaltet auf. Die Strömung springt gewissermaßen in den turbulenten Zustand hinein.

Eingehende Untersuchungen zeigten, dass für das Auftreten der Turbulenz Strömungsformen verantwortlich sind, die eigentlich gar nicht auftreten dürften. Wenn man die laminare Strömung nur infinitesimal stört, zerfallen diese Strömungsformen sogleich wieder. Es handelt sich dabei um wellenförmige Modulationen des parabolischen Geschwindigkeitsprofils, wie es für laminare Strömungen charakteristisch ist. Bruno Eckhardt und Holger Faisst hatten diese Strömungsformen für verschiedene Werte der Reynoldszahl berechnet und nach ihrer Symmetrie (2-, 3-, 4-, oder 6-zählig) klassifiziert. Im Laboratorium für Aerodynamik und Hydrodynamik der TU Delft hat man jetzt experimentell versucht, Spuren dieser instabilen Strömungsformen zu finden – mit überraschendem Ergebnis.


In einer 26 m langen und 4 cm durchmessenden Röhre ließen Björn Hof und seine Kollegen Wasser laminar strömen. Diese Strömung haben sie durch ein kleines Loch in der Wand des Rohres mit einem Wasserstrahl vorübergehend gestört. Auf dese Weise ließen sich in der laminaren Strömung turbulente Bereiche erzeugen, die 20 bis 80 cm lang waren und von der Strömung weitertransportiert wurden. Einige Meter flussabwärts untersuchten die Physiker das Geschwindigkeitsprofil der gestörten Strömung. Dazu beleuchteten sie einen Querschnitt des strömenden Wassers durch die transparente Rohrwand hindurch mit Laserlicht. Die Bewegung des Wassers wurde durch zahllose mittreibende 10 μm große Partikel sichtbar gemacht. Zwei auf den beleuchteten Querschnitt gerichtete Kameras erzeugten in der Sekunde bis zu 500 stereoskopische Bilder der Strömung. Daraus ließen sich detaillierte Strömungsprofile gewinnen.

In den Strömungsprofilen der turbulenten Bereiche waren deutlich die Strömungsformen zu erkennen, die Eckhardt und Faisst berechnet hatten. Dabei wechselten sich Strömungsformen von unterschiedlicher Symmetrie im Laufe der Zeit ab. Obwohl diese Strömungsformen instabil waren, spielten sie in den turbulenten Bereichen eine entscheidende Rolle. Mit diesem überraschenden Ergebnis kommen die Forscher zu einem neuen Szenario für die Entstehung der Turbulenz in Rohrströmungen. Demnach bleibt die laminare Strömung zwar gegen infinitesimal kleine Störungen auch bei sehr großen Werten der Reynoldszahl stabil. Mit zunehmendem Re treten mehr und mehr instabile Strömungsformen auf, die die Strömung für einen immer längeren Zeitraum in Unordnung bringen können, bevor sie in den laminaren Zustand zurückkehrt.

Im hochdimensionalen Phasenraum der Rohrströmung, der alle möglichen Strömungszustände umfasst, ergibt sich folgendes Bild: Der laminare Zustand ist für kleine Re-Werte ein globaler Attraktor, in den der Strömungszustand nach einer Störung immer wieder zurückkehrt. Mit wachsendem Re entsteht aufgrund der instabilen Strömungsformen ein chaotischer Repellor im Phasenraum, dem der Strömungszustand immer wieder nahe kommt bevor er von ihm abgestoßen wird. Dies führt dazu, dass die Strömung lang andauerndes aber transientes chaotisches Verhalten zeigt. Für einen bestimmten Re-Wert wird der Repellor zu einem chaotischen Attraktor, der die Strömung turbulent macht und dessen Anziehungsbereich mit wachsendem Re immer größer wird. Zugleich schrumpft der Anziehungsbereich des laminaren Zustands, der kein globaler sondern nur noch ein lokaler Attraktor ist. Schließlich wird sein Anziehungsbereich so klein, dass schon winzigste, unvermeidbare Störungen ausreichen, um die Rohrströmung vom laminaren in den turbulenten Zustand zu bringen.

Durch die Arbeit des internationalen Forscherteams hat somit das alte Rätsel der turbulenten Rohrströmung eine befriedigende Lösung gefunden.

Rainer Scharf

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