Lang lebe das Standardmodell
Atlas-Kollaboration belegt Standardmodell-treue Kopplung des Higgs-Bosons an Tau-Leptonen.
Das Standardmodell der Teilchenphysik kann der Weisheit letzter Schluss nicht sein. Die Existenz dunkler Materie und eine Reihe anderer fundamentaler Probleme führen zur Frage, an welcher Stelle dieses enorm erfolgreiche Modell der Elementarteilchen und der vermittelnden Naturkräfte denn zusammenbricht und wo sich unerwartete Effekte einer neuen Physik zeigen könnten. Eine wichtige Bedeutung bei der Suche nach Physik jenseits des Standardmodells kommt dabei der Untersuchung des Higgs-Bosons zu: Denn als besonders schweres Teilchen sollten sich bei ihm auch überschwere und bislang nicht zu erzeugende hypothetische Teilchen in den Zerfallsstatistiken bemerkbar machen. Über verschiedene Beiträge zu den virtuellen Kanälen in den entsprechenden Feynman-Diagrammen würden solche Partikel – eventuell schwere supersymmetrische Teilchen – die Zerfallskanäle des Higgs-Bosons beeinflussen und zu Werten führen, die nicht mit dem Standardmodell kompatibel sind. Das würde zwar auch die Zerfälle anderer Teilchen berühren, aber beim Higgs-Boson wäre dieser Effekt aufgrund seiner hohen Masse besonders stark.
Abb.: Mit dem Atlas-Detektor ließ sich die Kopplung des Higgs-Bosons an Tau-Leptonen nachweisen. (Bild: M. Brice)
Ein Zerfallskanal, der bislang nur schwer nachzuweisen war, ist der des Higgs-Bosons in zwei Tau-Leptonen. Dieser schwere Bruder von Elektron und Myon hat eine Halbwertszeit von nur 2,9 × 10-13 Sekunden und wiegt rund das 3500-fache eines Elektrons. Die Untersuchung dieses Zerfalls ist für die Teilchenphysik nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil alternative Modelle eine andere Kopplung der Tau-Leptonen an das Higgs-Boson vorhersagen als das Standardmodell. Die Atlas-Kollaboration am Large Hadron Collider (LHC) des Cern kann allerdings nicht mit Überraschungen aufwarten: Nach ihren neuesten Analysen verläuft dieser Zerfall so wie erwartet. Zwar sind die Fehlerbalken bei diesem seltenen Zerfallskanal noch groß, aber alternative Modelle lassen sich bislang nicht aus den Daten ablesen. Die Kopplung des Higgs-Bosons an Fermionen ist jedoch ein Hinweis auf die Yukawa-
Bei einer Schwerpunktsenergie von 13 TeV erzielte die Atlas-Kollaboration eine statistische Signifikanz von 4,4 Sigma. Zusammengenommen mit früheren Messdaten aus der Zeit, als der LHC mit sieben und acht TeV noch niedrigere Schwerpunktsenergien bei den Proton-Proton-Kollisionen lieferte, ergibt dies eine Signifikanz von 6,4 Sigma. Noch sind die Fehler mit 28 Prozent jedoch beachtlich, weshalb es erst in Zukunft wirklich spannend werden dürfte, wenn man das Standardmodell auf Herz und Nieren prüfen möchte.
Die Analyse hatte aber naturgemäß nicht nur mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass die Taus nicht nur sehr kurzlebig sind, sondern auch, dass mindestens eines des Zerfallsprodukte ein Neutrino ist, das unsichtbar bleibt und Energie aus dem Detektor transportiert. Außerdem zerfällt das Z-Boson, das nur etwas leichter ist als das Higgs-Boson und sehr viel häufiger entsteht, ebenfalls in Pärchen aus Tau-Leptonen und erzeugt so einen starken Hintergrund.
Diese Beobachtungen am Atlas-Detektor decken sich mit Analysen des zweiten großen Universaldetektors am LHC, dem Compact Muon Solenoid (CMS). Auch die CMS-Kollaboration hat diesen Zerfall bereits nachweisen können. Dabei konnten die Forscher sich bei einer Schwerpunktsenergie von der Proton-Proton-Kollisionen von 13 TeV eine Signifikanz von 4,9 Standardabweichungen erreichen. Die CMS-Daten lagen knapp zehn Prozent über dem laut dem Standardmodell für diesen Zerfall erwarteten Wert; sie waren im Rahmen der Fehlergrenzen von etwa 26 Prozent jedoch völlig mit dem Standardmodell kompatibel. Fasst man diese Messungen mit älteren Higgs-Analysen zusammen, die bei Schwerpunktsenergien von sieben und acht TeV stattfanden, so erhöht sich die statistische Signifikanz der CMS-Messungen sogar auf 5,9 Standardabweichungen.
Erst kürzlich hatte die Atlas-Kollaboration, ebenso wie bereits die CMS-Kollaboration, die Kopplung des Higgs-Bosons an ein Paar aus Top-Quarks vermessen und dabei ebenfalls keine Abweichung vom Standardmodell feststellen können. Bis Ende dieses Jahres wird aber mit einer deutlichen Steigerung der Messgenauigkeit zu rechnen sein. Es ist den Wissenschaftlern und Technikern am LHC in den letzten Jahren gelungen, die Luminosität des Teilchenbeschleunigers immer weiter zu steigern, unter anderem durch eine geschickte Neuanordnung der Protonen-Pakete, die im Ring zirkulieren. In den letzten Monaten konnte so die erhoffte Luminosität sogar deutlich übertroffen werden, was der Messgenauigkeit zugute kommt. Bislang ist etwa der Zerfall des Higgs-Bosons in Myonen noch nicht nachweisbar und es lassen sich lediglich obere Grenzen angeben.
Dieses Jahr endet der Run 2 am LHC, dann geht es in den zweiten längeren Shutdown, nach dem im Jahr 2021 wohl endlich die ursprünglich anvisierten 14 TeV Schwerpunktsenergie erreicht werden. Ab dem Jahr 2025 soll mit Hilfe technologischer Neuerungen und einiger Umbauarbeiten dann der High-Luminosity Large Hadron Collider (HL-LHC) betriebsfertig sein. Damit sollten dann die ursprünglich geplanten Kollisionsraten um rund einen Faktor zehn zu übertreffen sein, wodurch die Beobachtung seltener Zerfälle möglich wird, die sich heute noch tief im Hintergrundrauschen verstecken.
Dirk Eidemüller
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