26.05.2017

Macht radioaktive Strahlung Quarzglas flüssig?

Simulationen zeigen markante Unterschiede zum glasartigen Erstarren von Schmelzen

Für hochradioaktive Abfälle gibt es Verglasungs­verfahren, die den Abfall in widerstandsfähige Kokillen aus Borosilikat­glas einschmelzen. Die ungeordnete glasartige Struktur bietet den Vorteil hoher Stabilität gegenüber Hitze und Säuren und soll sich bei radioaktiver Strahlung stetig selbst heilen. Zweifel an diesem Prozess hegen nun Wissenschaftler an der University of California in Los Angeles. Sie simulierten das Verhalten von Silikat­gläsern unter Neutronenbeschuss. Dabei entdeckten sie, dass die Struktur­änderungen bei Bestrahlung mehr zu einer bisher unbekannten Unordnung wie in Flüssigkeiten neigt. Sollte sich dieses Verhalten auch experimentell bestätigen lassen, müsste die Stabilität von Glas­kokillen neu bewertet werden.

Abb.: Simulation von Strukturdefekten in Silikat nach dem Beschuss mit Neutronen (Bild: N.M. Anoop Krishnan / UCLA)

Mathieu Bauchy und seine Kollegen von der UCLA-Arbeitsgruppe für amorphe und anorganische Festkörper bestimmten die Struktur von amorphen Silizium­dioxid mit molekular­dynamischen Simulationen. Die Basis für ihre Berechnungen legte eine Superzelle aus insgesamt 8100 Atomen – 5400 Sauerstoff- und 2700 Silizium­atome. Über Paar­verteilungs­funktionen ermittelten sie die Wahrscheinlichkeiten für die Positionen der Sauerstoff- und Silizium­atome. Aus diesen Daten konnte sie auf markante Strukturen und Defekte in der ungeordneten Silikat­struktur zurückschließen.

Für die Materialänderungen durch radioaktive Strahlung gingen sie von einem Beschuss mit Neutronen mit einer kinetischen Energie von jeweils 600 Elektronen­volt aus. Diese Neutronen stießen in zufällig verteilter Richtung ballistisch auf die Atome im Silikat­verbund und führten über eine Ketten­reaktion zu einer Änderung der Atom­positionen. Für die Silikat­struktur nach einem schock­artigen Erstarren starteten sie die Simulation mit einer Schmelze bei 4500 Kelvin, die mit einem Kelvin pro Piko­sekunde bis auf 300 Kelvin abgekühlt wurde. Bei beiden Systemen warteten sie solange ab, bis sich ein relatives Gleichgewicht einstellte.

Beide Simulationen zeigten über die gesamte Superzelle auf den ersten Blick einen sehr ähnlichen Aufbau. Auch für die Dichte ergaben sich fast identische Werte von 2,2 Gramm pro Kubik­zentimeter. Markante Unterschiede zwischen der erstarrten Schmelze und dem Silikat nach Neutronen­beschuss offenbarten sich jedoch bei der Nahordnung mit Atom­abständen bis drei Ångström und über mittlere Abstände zwischen drei und zehn Ångström. Das virtuell mit Neutronen beschossene Silikat wies auf dieser Größenskala mehr Defekte in Form von Ring­strukturen mit sechs bis zehn Atomen und gemeinsamen Eckatomen bei benachbarten Silikat­einheiten auf.

„Die atomare Struktur des bestrahlten Materials gleicht eher einer Flüssigkeit als einem Glas“, sagt Mathieu Bauchy. Trotz vielfacher detaillierter Struktur­analysen verschiedener Silikate könnte seiner Meinung nach der schädigende Einfluss eines Neutronen­beschuss auf die Silikat­struktur bisher unterschätzt werden. Allein die markanten Unterscheide der beiden simulierten Silikat­strukturen lege laut Bauchy nahe, dass diese Gläser doch wesentlich durch radioaktive Strahlung beeinflusst werden könnten.

Das bisher magere Verständnis über den Einfluss von schnellen Neutronen auf die Struktur von Silikaten beurteilen die Forscher als ein ernst zu nehmendes Risiko für den als sicher geltenden Einschluss radioaktiver Substanzen in Glas­kokillen. Ihre Simulationen wollen die Forscher nun auch auf Zement-Materialien ausweiten, die in Kernkraftwerken genutzt werden. Ihr Ziel ist es, neue Modelle für die Langzeit­stabilität der Materialien unter radioaktiver Strahlung aufzustellen. Parallel wären auch konkrete Struktur­analysen an Material­proben nötig, um die Ergebnisse der Simulationen experimentell zu überprüfen.

Jan Oliver Löfken

DE

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