Magnetismus war seine Domäne
Zum 150. Geburtstag des Physikers Pierre-Ernest Weiss (1865 – 1940)
Das Foto aus dem Jahr 1920 zeigt einen illustren Kreis zu Gast beim späteren Nobelpreisträger Heike Kammerling-Onnes in Leiden: Albert Einstein, Paul Ehrenfest, Paul Langevin, den Gastgeber – und Pierre-Ernest Weiss. Mit seinen 55 Jahren ist er der Älteste in der Runde. Er genießt einen Ruf als ausgezeichneter Experimentalphysiker auf dem Gebiet des Magnetismus, und sein Labor in Strasbourg gehört zu den führenden in Europa. Zehn Jahre später wird sein Lebenswerk auf dem Solvay-Kongress in Brüssel auf eine harte Probe gestellt.
Geboren am 25. März 1865 in Mulhouse im Elsass, studiert Weiss zunächst Ingenieurwissenschaften am Zürcher Polytechnikum und wechselt dann nach Paris an die Ecole Normale Supérieure. Mit seiner Promotion über die Magnetisierung einer Legierung aus Eisen und Antimon betritt er 1896 das Forschungsgebiet, dem er ein Leben lang treu bleiben wird.
Ein Jahr später beobachtet Pierre Curie in Paris, dass die magnetische Suszeptibilität von Paramagneten temperaturabhängig ist. 1905 findet sein Pariser Kollege Paul Langevin dafür eine Erklärung auf der mikroskopischen Ebene: Er nimmt an, dass der Magnetismus durch eine Vielzahl kleiner magnetischer Momente hervorgerufen wird, die durch kreisende Elektronen entstehen. Indem er den statistischen Ansatz von Ludwig Boltzmann auf die Miniatur-Magnete anwendet, kann Langevin die Temperaturabhängigkeit der Suszeptibilität erklären.
Pierre-Ernest Weiss absolviert während dieser Zeit seine akademischen Wanderjahre. Nach wenig ertragreichen Stellungen als Dozent in Rennes und in Lyon kehrt er 1906 nach Zürich zurück, wo er eine Professur erhält und Direktor des Physikalischen Labors wird. Ein Jahr später publiziert er seinen wichtigsten Beitrag zum Magnetismus: Um zu erklären, warum Ferromagneten auch in Abwesenheit eine Magnetfeldes magnetisch bleiben, führt er ein Molekularfeld ein. Weiss versteht darunter ein über alle magnetischen Momente gemitteltes homogenes Magnetfeld, das proportional zur Magnetisierung ist. Aus der Sättigungsmagnetisierung versucht Weiss umgekehrt eine kleinste Einheit für das magnetische Moment zu ermitteln, die er als Weisssches Magneton bezeichnet.
Weiss erklärt auch, warum Ferromagneten trotz des molekularen Feldes nicht immer magnetisch sind, indem er die nach ihm benannten Weiss-Domänen einführt. In diesen mikroskopischen Domänen sind die magnetischen Momente allesamt gleich ausgerichtet. Ist die Orientierung der magnetischen Momente dieser Domänen jedoch über das Material hinweg statistisch verteilt, ist das resultierende magnetische Moment Null.
Weiss formuliert weiterhin das nach ihm und Pierre Curie benannte Gesetz, das die Suszeptibilität von Ferromagneten in der Hochtemperaturphase beschreibt. Jenseits der Curie-Temperatur bricht der Ferromagnetismus zusammen; die magnetische Suszeptibilität des nunmehr paramagnetischen Materials weicht jedoch von derjenigen gewöhnlicher Paramagneten ab.
Während des Ersten Weltkrieges arbeitet Weiss zusammen mit dem Physiker Aimé Cotton an einem System zur Ortung von Artillerie-Stellungen durch Schallmessungen. Cotton ist Spezialist für die Wechselwirkung von polarisiertem Licht mit chiralen Molekülen. Nun arbeiten die beiden Physiker, neben ihrer Arbeit für die Regierung, am Grenzgebiet ihrer beiden Forschungsgebiete: Sie untersuchen die durch Pieter Zeeman beobachtete Aufspaltung von Spektrallinien im Magnetfeld.
Als das Elsass nach dem Krieg wieder zu Frankreich gehört, wird die dortige deutsche Universität geschlossen. Weiss gehört zu den Wissenschaftlern, denen man die Wiederherstellung der französischen Universität anvertraut. Er akzeptiert die Leitung des Physiklabors unter der Bedingung, dass er sein in Zürich über 15 Jahre aufgebautes Forschungsprogramm fortsetzen kann. Dafür erhält er die nötigen Mittel. Seine engsten Mitarbeiter aus Zürich werden ebenfalls nach Strasbourg berufen.
1926 hat Pierre-Ernest Weiss den Höhepunkt seiner akademischen Laufbahn erreicht, als er zum Mitglied der Akademie des Sciences in Paris gewählt wird. 1930 gehören er und seine Mitarbeiter zum exklusiven Kreis der Wissenschaftler, die auf die 6. Solvay-Konferenz in Brüssel zum Thema Magnetismus eingeladen werden. Auf der Konferenz kommt es zu einer Konfrontation ihres klassischen Modells des Ferromagnetismus mit den quantenmechanischen Ansätzen von Arnold Sommerfeld, John Van Vleck, Wolfgang Pauli und Werner Heisenberg.
Mit der klassischen Physik lässt sich nicht begründen, warum das von Weiss postulierte Molekularfeld so stark ist. Heisenberg erklärt den Ferromagnetismus durch eine rein quantenmechanische Wechselwirkung zwischen benachbarten Elektronen. Weiss muss sich von seinem Konzept des Molekularfeldes verabschieden. Ähnlich geht es ihm mit dem Magneton, denn es kann – anders als das Bohrsche Magneton – nicht durch quantenmechanische Größen definiert werden. In den 1930er-Jahren entwickelt Weiss Mitarbeiter Louis Néel das Konzept des Molekularfeldes im quantenmechanischen Sinne weiter, indem er ein lokales Molekularfeld postuliert, das zwischen benachbarten magnetischen Momenten wirksam ist. Dafür wird Néel 1970 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
In den folgenden Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzt das Labor von Weiss seine experimentellen Arbeiten zum Magnetismus unter der Berücksichtigung quantenmechanischer Theorien fort. Wenige Monate nach einer großen internationalen Konferenz, die Weiss 1939 in Strasbourg organisiert, bricht der Zweite Weltkrieg aus. Die jungen Mitarbeiter werden eingezogen, das Labor verlegt. Weiss flüchtet nach Lyon, wo er im Oktober 1940 stirbt, kurz nachdem er den Tagungsband der Konferenz fertiggestellt hat.
Anne Hardy
Weitere Infos
- K. H. Wiederkehr, Zur Deutung magnetischer Phänomene im 19. Jahrhundert, Physikalische Blätter 44, 129 (1988)
- M. Kersten, Nobelpreis für Louis Néel, Physikalische Blätter 27, 154 (1971)
- R. Voltz, V. Pierron-Bohnes und M.-C. Cadeville, Pierre Weiss (1865 – 1940), Physiciens en Alsace, témoins de leurs temps, Université de Strasbourg PDF