Molekularer Breakdance des Sehens
Unser Sehsinn beruht auf exakt choreographierten, ultraschnellen Molekülbewegungen.
Die Aufnahme von Licht in der Netzhaut durch Rhodopsin, auch Sehpurpur genannt, ist die Grundlage unseres Sehsinns. Wie neue Experimente von Wissenschaftlern des MPI für Struktur und Dynamik der Materie und der University of Toronto gezeigt haben, läuft der erste photochemische Schritt dieses Prozesses an der fundamentalen molekularen Geschwindigkeitsgrenze ab.
Abb.: Künstlerische Darstellung der molekularen Bewegung des Chromophors Retinal, das das Sehen ermöglicht. (Bild: J. M. Harms, MPSD)
Der Chromophor im Rhodopsin, Retinal oder auch Vitamin-A-Aldehyd genannt, leitet seine Lichtempfindlichkeit aus einer sich wiederholenden Kette von einzeln und doppelt gebundenen Kohlenstoffatomen ab. Die Absorption eines Photons durch Retinal führt zu einer extrem kurzzeitigen Schwächung einer bestimmten Doppelbindung, was eine Rotation um diese Bindung auslöst. Wie schnell diese Isomerisierungsreaktion tatsächlich erfolgt, ließ sich bislang nicht genau beobachten und war im Wesentlichen von den technologischen Fortschritten im Bereich gepulster Laserquellen abhängig. Mit Femtosekunden-Lasern konnte bereits vor einiger Zeit gezeigt werden, dass die Isomerisierung innerhalb von maximal zweihundert Femtosekunden abläuft, und dass es sich dabei um eine vibrationskohärente chemische Reaktion handeln könnte. Das bedeutet, die Schwingungsbewegungen des Chromophors Retinal wirken bei der Steuerung der Isomerisierung mit.
Mithilfe der hochempfindlichen heterodyne-detected transient grating spectroscopy Ultrakurzzeitspektroskopie haben Wissenschaftler in den Laboren von Dwayne Miller und Oliver Ernst am Hamburger MPI und der University of Toronto die Isomerisierungsreaktion von Rinder-Rhodopsin mit höchster Empfindlichkeit und vorher unerreichter zeitlicher Auflösung erneut untersucht. Diese neuen Messungen zeigten, dass die Isomerisierung auf einer Zeitskala von dreißig Femtosekunden erfolgt. „Es stellt sich heraus, dass der erste Schritt des Sehens beinahe zehnmal schneller ist als bisher angenommen,“ sagt Miller, „und die molekularen Bewegungen sind durch Rhodopsin perfekt choreographiert.“
Die Analyse der zeitaufgelösten experimentellen Daten enthüllt diese choreographierte Schwingungsdynamik, die sich aus örtlich begrenzten Streck-, Wipp- und Drehbewegungen zusammensetzt. „Eine solch schnelle Zeitskala stellt eine eindeutige Eingrenzung der vibrationskohärenten Reaktionskoordinate dar,“ sagt Studienleiter Philip Johnson. „Und diese Arbeit lässt darauf schließen, dass die Reaktion lokal an der bestimmten isomerisierenden Doppelbindung angesiedelt ist. Darüber hinaus findet die Isomerisierungsreaktion innerhalb einer einzelnen Periode der relevanten Drehschwingung statt“, fügt er hinzu. „Der Begriff der vibrationskohärenten chemischen Reaktionen wird mindestens seit den 1930er Jahren verwendet, aber erst jetzt wurden sie eindeutig nachgewiesen.“
MPSD / OD