19.11.2015

Molekularer Breakdance des Sehens

Unser Sehsinn beruht auf exakt cho­reo­gra­phier­ten, ultra­schnel­len Mo­le­kül­be­we­gungen.

Die Aufnahme von Licht in der Netzhaut durch Rhodopsin, auch Seh­purpur genannt, ist die Grund­lage unseres Seh­sinns. Wie neue Experi­mente von Wissen­schaft­lern des MPI für Struk­tur und Dyna­mik der Mate­rie und der Univer­sity of Toronto ge­zeigt haben, läuft der erste photo­chemi­sche Schritt dieses Pro­zes­ses an der funda­men­talen mole­ku­laren Geschwin­dig­keits­grenze ab.

Abb.: Künstlerische Darstellung der moleku­laren Bewegung des Chromo­phors Retinal, das das Sehen ermög­licht. (Bild: J. M. Harms, MPSD)

Der Chromophor im Rhodopsin, Retinal oder auch Vitamin-A-Aldehyd genannt, leitet seine Licht­empfind­lich­keit aus einer sich wieder­holenden Kette von einzeln und doppelt gebundenen Kohlen­stoff­atomen ab. Die Absorp­tion eines Photons durch Retinal führt zu einer extrem kurz­zeitigen Schwächung einer bestimmten Doppel­bindung, was eine Rotation um diese Bindung auslöst. Wie schnell diese Iso­meri­sierungs­reaktion tatsäch­lich erfolgt, ließ sich bislang nicht genau beob­achten und war im Wesent­lichen von den techno­logischen Fort­schritten im Bereich gepulster Laser­quellen abhängig. Mit Femto­sekunden-Lasern konnte bereits vor einiger Zeit gezeigt werden, dass die Isomeri­sierung innerhalb von maximal zweihundert Femtosekunden abläuft, und dass es sich dabei um eine vibra­tions­kohä­rente chemische Reaktion handeln könnte. Das bedeutet, die Schwing­ungs­bewe­gungen des Chromo­phors Retinal wirken bei der Steue­rung der Isomeri­sierung mit.

Mithilfe der hochempfindlichen heterodyne-detected transient grating spectro­scopy Ultra­kurz­zeit­spektro­skopie haben Wissen­schaftler in den Laboren von Dwayne Miller und Oliver Ernst am Hamburger MPI und der Univer­sity of Toronto die Iso­meri­sierungs­reaktion von Rinder-Rhodopsin mit höchster Empfind­lich­keit und vorher uner­reichter zeit­licher Auf­lösung erneut unter­sucht. Diese neuen Messungen zeigten, dass die Isomeri­sierung auf einer Zeit­skala von dreißig Femto­sekunden erfolgt. „Es stellt sich heraus, dass der erste Schritt des Sehens beinahe zehn­mal schneller ist als bisher ange­nommen,“ sagt Miller, „und die molekularen Bewe­gungen sind durch Rhodopsin perfekt choreo­gra­phiert.“

Die Analyse der zeitaufgelösten experimentellen Daten enthüllt diese cho­reo­gra­phierte Schwingungs­dynamik, die sich aus ört­lich begrenzten Streck-, Wipp- und Dreh­bewegungen zusammen­setzt. „Eine solch schnelle Zeit­skala stellt eine eindeutige Eingrenzung der vibra­tions­kohä­renten Reak­tions­koordinate dar,“ sagt Studien­leiter Philip Johnson. „Und diese Arbeit lässt darauf schließen, dass die Reaktion lokal an der bestimmten isomeri­sierenden Doppelbindung angesiedelt ist. Darüber hinaus findet die Iso­meri­sierungs­reaktion inner­halb einer einzelnen Periode der relevanten Dreh­schwingung statt“, fügt er hinzu. „Der Begriff der vibra­tions­kohärenten chemischen Reak­tionen wird mindes­tens seit den 1930er Jahren verwendet, aber erst jetzt wurden sie eindeutig nachge­wiesen.“

MPSD / OD

EnergyViews

EnergyViews
Dossier

EnergyViews

Die neuesten Meldungen zu Energieforschung und -technologie von pro-physik.de und Physik in unserer Zeit.

Sonderhefte

Physics' Best und Best of
Sonderausgaben

Physics' Best und Best of

Die Sonder­ausgaben präsentieren kompakt und übersichtlich neue Produkt­informationen und ihre Anwendungen und bieten für Nutzer wie Unternehmen ein zusätzliches Forum.

Meist gelesen

Themen