20.11.2014

Neue Lösungsmethode für Boltzmann-Gleichung

Anwendung auf aktiv angetriebene Teilchen­systeme zeigt bislang unbekannte Muster kollektiver Teilchen­bewegung.

Mithilfe der Boltzmann-Gleichung berechnen Physiker die statistische Verteilung von Teilchen in Gasen. Bei der Anwendung dieser Gleichung auf sogenannte aktive Gase stießen Forscher bislang aber auf schwerwiegende technische Probleme. Physiker um Erwin Frey vom Lehrstuhl für Statistische und Biologische Physik der Ludwig-Maximilians-Universität München haben nun eine numerische Routine zur Lösung der Boltzmann-Gleichung für aktive Systeme entwickelt.

Abb.: Das neu entdeckte Muster, bei dem sich Cluster aktiver Teilchen wie auf parallelen Straßen anordnen und sich in entgegengesetzte Richtungen bewegen. (Bild: F. Thüroff, LMU)

Aktive Systeme spielen eine prominente Rolle in einer Vielzahl unterschied­lichster biologischer Systeme, angefangen bei subzel­lulären Biopolymer-Netzwerken bis hin zu ausgedehnten Schwärmen zehntausender Zugvögel. Anders als in herkömmlichen Gasen, verfügen die einzelnen Teilchen in aktiven Gasen über einen eigenen Antrieb und stehen nicht selten in gegen­seitiger Wechsel­wirkung. Diese hoch komplexen Eigenschaften bilden die Grundlage zur Ausbildung faszinierender kollektiver Phänomene. Übertragen auf das Schwarm­verhalten im Tierreich gestatten es derartige Phänomene zum Beispiel den Tieren in gigantischen Gnu-Herden, sich in ein und dieselbe Himmels­richtung fortzu­bewegen, selbst ohne die Hilfe tierischer Lotsen oder spezieller Orientierungspunkte in der Savanne. „Die Boltzmann-Gleichung scheint ein interes­santes Werkzeug zu sein, um diese ungewöhnliche kollektive Dynamik zu beschreiben. Doch die recht komplexe mathematische Struktur macht es schwierig, sie auf aktive Systeme anzuwenden. Wir schlagen nun eine konzeptionell neue Heran­gehens­weise dafür vor“, sagt Florian Thüroff, Doktorand in Freys Arbeitsgruppe.

Die LMU-Physiker haben einen Algorithmus entwickelt, der es erlaubt, die groß­skaligen, kollektiven Phänomene in diesen Systemen auf Grundlage der speziellen Eigen­schaften der einzelnen Teilchen zu untersuchen. „Wir haben mit unserer Methode ein arche­typisches System aktiv getriebener Teilchen untersucht. Dabei haben wir eine neue Analogie zwischen den Phasenübergängen in aktiven und thermischen Systemen entdeckt“, sagt Thüroff. „Der Übergang hin zur kollektiven Bewegung erfolgt über eine sogenannte Phasenseparation. Dabei teilt sich das aktive System in abgegrenzte Gebiete mit hoher Teilchen­dichte und kollektiv ausgerich­teter Teilchen­bewegung und gasförmige Gebiete niedriger Teilchen­dichte auf. Strukturell findet man dabei auffallende Ähnlichkeiten mit dem Übergang zwischen der flüssigen und gasförmigen Phase in Wasser, wo sich flüssige Wasser­tröpfchen inmitten einer gasförmigen Wolke aus Wasser­dampf ausbilden.“

Zudem haben die Forscher bislang unbekannte Muster kollektiver Bewegung in aktiven polaren System entdeckt. Bislang war nur ein Wellenmuster bekannt, in dem sich die im Kollektiv bewegenden Teilchen in Form ausgedehnter Bänder organisieren. Mit ihrem neuen Algorithmus haben die Münchener nun ein Muster gefunden, bei dem sich die Teilchen in großen Clustern organisieren, die sich wie auf Straßen mit mehreren Fahr­bahnen anordnen und dort in entgegen­gesetzte Richtungen bewegen. „Dies ist höchst bemerkenswert, weil es, im Gegensatz zu allen bisher bekannten geordneten Phasen solcher Systeme, nicht direkt die Symmetrie der zugrundeliegenden Teilchen­wechsel­wirkungen reflektiert“, merkt Thüroff an.

Der neue Algorithmus ist für eine Vielzahl von Fragestellungen interessant. So lassen sich dadurch zum Beispiel aktive Systeme nicht mehr nur als offene Systeme beschreiben, was zukünftig den Vergleich mit experimentellen Versuchen erheblich erleichtern könnte. „Darüber hinaus bietet diese Lösungs­routine spannende Möglich­keiten, dringende konzeptionelle Fragen zu beleuchten, die bisher aufgrund technischer Hürden einer detail­lierten Analyse kaum zugänglich waren“, sagt Erwin Frey. „Heute steht die wissen­schaftliche Gemeinschaft erst am Anfang ihrer Bemühungen, sich ein vollständiges Bild von den verschiedenen Arten kollektiver Ordnung und deren Zusammen­hang mit den speziellen Symmetrien der zugrundeliegenden Teilchen­wechsel­wirkungen zu machen. Dabei ist gut denkbar, dass die Boltzmann-Gleichung für das Verständnis aktiver biologischer Systeme eine ähnlich wichtige Rolle spielen könnte, wie einst für die Entwicklung der Statistischen Physik.“

LMU / OD

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