22.10.2021

Neutrino-Materieeffekten auf der Spur

IceCube-Detektor sucht nach Phänomenen jenseits des Standardmodells.

Seit Jahrzehnten gehen Physikerinnen und Physiker davon aus, dass die derzeit beste Theorie zur Beschreibung der Teilchenphysik – das Standard­modell – nicht ausreicht, um unser Universum mit all seinen Facetten zu erklären. Auf der Suche nach neuer Physik jenseits des Standard­modells könnten Neutrinos den Weg weisen. Sie wechselwirken selten mit Materie und druchdringen so gut wie alles. Auf ihrem Weg durch die Materie können sie jedoch je nach Neutrino-Sorte über den Materie­effekt verlangsamt werden. Viele über das Standardmodell hinausgehende Modelle (BSH) sagen für Neutrinos zusätzliche, bisher unbekannte Wechsel­wirkungen mit Materie voraus. Unterschiedliche Neutrino-Sorten können von diesen Wechselwirkungen unterschiedlich stark betroffen sein. Auch hängt die Stärke der daraus resul­tierenden Materie­effekte von der Dichte der Materie ab, welche die Neutrinos durchqueren. Sollten Forschende Materieeffekte beobachten, die sich als „Nicht-Standard-Wechsel­wirkungen“ (NSI) erklären lassen, könnte dies auf neue Physik hinweisen.

Abb.: Blick auf die Amundsen-Scott-Forschungs­station am Südpol. (Bild: B....
Abb.: Blick auf die Amundsen-Scott-Forschungs­station am Südpol. (Bild: B. Eberhardt, NSF)

Das Neutrino­teleskop IceCube besteht aus zahlreichen Lichtsensoren tief im antark­tischen Gletschereis in der Nähe des Südpols. IceCube wurde gebaut, um die Licht­signaturen von Neutrinos aus dem Weltall zu messen und neue Erkenntnisse zu deren Eigenschaften und Quellen zu gewinnen. Im Zentrum des riesigen Detektors, der insgesamt einen Kubik­kilometer Gletscher­eis umfasst, gibt es eine Gruppe von dichter angeordneten Sensoren, die DeepCore genannt wird.  Dieser Teil von IceCube ist empfindlich für Neutrinos mit niedrigerer Energie, die in der Erdatmo­sphäre erzeugt und anhand derer die Effekte von NSI deutlicher sichtbar werden. Nun berichtet die IceCube-Kolla­boration über eine Analyse, in der sie DeepCore-Daten aus drei Jahren Messzeit untersuchte, um festzu­stellen, ob atmosphärische Neutrinos zusätzliche Wechsel­wirkungen mit Materie haben. Die neue Analyse setzt erstmals Grenzen für alle Parameter, die zur Beschreibung von NSI verwendet werden. Dies ist eine Verbesserung gegenüber früheren Analysen, die sich nur auf einen NSI-Parameter beschränkten, für den IceCube am empfindlichsten ist.

„Atmosphärische Neutrinos bieten uns ine großartige Möglichkeit, zu testen, ob Neutrino­interaktionen jenseits des Standardmodells existieren, weil die Neutrinos durch die Erde hindurch fliegen, einschließlich ihres Zentrums, das eine sehr hohe Materiedichte hat“, sagt Elisa Lohfink, Doktorandin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Änderungen in der Materie­dichte beein­flussen direkt die Oszillations­muster der Neutrinos – also die Art und Weise, wie Neutrino-Sorten sich ineinander umwandeln oder oszillieren – und damit auch, welche Sorten von Neutrinos im Detektor ankommen. DeepCore ist aufgrund der großen Anzahl atmo­sphärischer Neutrinos, die es jedes Jahr nachweist, empfindlich für diese Materie­effekte.

In der vom Doktoranden Thomas Ehrhardt geleiteten Analyse untersuchte das Forscherteam die Oszillations­muster von Neutrinos, die aus allen Richtungen bei DeepCore ankamen. Sie analysierten, ob die Muster besser mit den Vorhersagen des Standardmodells übereinstimmten – oder besser mit Modellen, die neue Wechsel­wirkungen vorsehen. Konkret überprüften sie dies anhand von fünf effektiven Parametern, welche die Auswirkungen der zusätzlichen Wechsel­wirkungen auf die einzelnen Neutrino-Sorten darstellen. Die Forschenden konnten so durch Testen zahlreicher Hypothesen die Bereiche für die effektiven NSI-Parameter einschränken.

Zunächst untersuchten Ehrhardt und seine Kollegen jeden der effektiven Parameter separat. Komplett freie NSI – wobei also alle Parameter gleichzeitig eine Rolle spielen können - wurden anschließend zusätzlich untersucht. Da die Analyse weitgehend unabhängig von den zugrunde­liegenden Modellen war, konnten die Forscher NSI einschränken, ohne sich auf die Richtigkeit eines bestimmten Modells zu verlassen. Im Ergebnis war die IceCube Kollaboration in der Lage, jeden der fünf NSI-Parameter einzeln mit einer Empfind­lichkeit einzu­schränken, die mindestens mit den Grenzwerten aus globalen Analysen vergleichbar ist – eine Leistung, die Lohfink als beispiellos bezeichnet.

Noch wichtiger, so die Forscher, ist die Erkenntnis, dass IceCube nun Modelle testen kann, in denen alle NSI Parameter eine Rolle spielen und gleichzeitig betrachtet werden müssen. „Soweit wir wissen, gibt es kein anderes Experiment auf der Welt, das dies mit einer einzigen Messung schafft“, sagt Sebastian Böser, Mitglied des Exzellenz­clusters PRISMA+. „So können wir eine noch nie dagewesene Bandbreite von Modellen für neue Physik im Neutrino­sektor testen.“ Das Ergebnis ist eine bedeutende Verbesserung gegenüber früheren IceCube-Analysen, bei denen nur ein NSI-Parameter untersucht wurde.

Das Forscherteam hofft, dass der Rest der Neutrino-Community ihre Ergebnisse aufgreift und in die globalen Analysen einbezieht. Lohfink und ihre Kollegen arbeiten bereits an einer Folge­analyse mit einer viel größeren Datenmenge – die aus acht statt drei Jahren stammt – und einer viel besseren Empfind­lichkeit. Sie hoffen, bald noch genauere Grenzwerte für alle NSI Parameter vorlegen zu können. „Langfristig wird das IceCube-Upgrade für diese Art der Analyse völlig neue Möglich­keiten eröffnen“, sagt Böser. „Das Upgrade wird nicht nur für eine bessere Kali­brierung sorgen und systematische Unsicherheiten reduzieren, sondern es wird uns auch erlauben, die Neutrino-Oszil­lationen sehr viel besser aufzulösen und damit mögliche Abweichungen vom Standard­modell viel deutlicher zu sehen.“

JGU Mainz / JOL

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